Freitag, 6. Oktober 2017

WIDERWORTE

"VERANTWORTUNG IST KEIN VAGES PHILOSOPHISCHES KONZEPT, SONDERN GREIFBARE REALITÄT"

Donnerstag, fünfter Oktober, Vollmond, Tag der Verkündung des Nobelpreisträgers für Literatur 2017: Kazuo Ishiguro. Jean-Marie Gustave Le Clezio, französisch-mauritischer Schriftsteller, rastlos Reisender und Nobelpreisträger von 2008, verlas auf france inter einen eindringlichen Appell zu den aktuellen Fluchtbewegungen und Abwehrreaktionen:

„In Wahrheit stellt jedes Drama der Flucht aus armen Ländern dieselbe Frage, die sich einst den Bewohnern von Roquebillière gestellt hat, als sie meiner Mutter und ihren Kindern Asyl anboten: die Frage der Verantwortung.“

Zerrissene Welt. Auf der einen Seite Menschen, die durch den Zufall ihrer geographischen Positionierung, durch ihre seit Jahrhunderten bestehende ökonomische Macht und ihre Sozialisation im Zeichen von Frieden und Wachstum geprägt sind; auf der anderen Seite Völker, denen es am Notwendigsten, vor allem an demokratischen Strukturen mangelt.

Hier kommt Verantwortung zum Tragen. Und die ist kein vages philosophisches Konzept, sondern greifbare Realität.

Die Situation, vor der die nunmehr Entwurzelten geflüchtet sind, wurden von den reichen Nationen geschaffen: zuerst durch die gewaltsame Eroberung der Kolonien, später, nach Erlangung der Unabhängigkeit, durch die Unterstützung der Diktatoren, zuletzt durch das Anzetteln von bis zum Exzess geführten Kriegen, in deren Verlauf das Leben der einen wertlos wird, während sie für die anderen wachsenden Reichtum bedeuten.

Was tun mit dieser Diskrepanz? Wie umgehen mit den zahllosen verängstigten, ausgelaugten, ausgesetzten Leuten? „Können wir sie ignorieren und den Blick abwenden? Akzeptieren, dass sie zurückgewiesen werden als ob ihr Unglück ein Verbrechen und Armut eine Krankheit wäre?“

Wäre eine dritte Position denkbar, zwischen der utopischen Hoffnung auf eine universelle Verfassung – wobei die erste Verfassung, die auf Gleichheit basierte, nicht im antiken Griechenland und auch nicht im Frankreich der Aufklärung geschrieben wurde, sondern in Afrika, im Königreich Mali vor seiner Eroberung – und der paranoischen Abschottung durch präventive Barrieren wie Mauern oder Zäune? Wäre eine von Verantwortung getragene Position denkbar?

„Wenn wir schon diese oder jene, die darauf angewiesen wären, nicht aufnehmen können, und wenn wir schon außerstande sind, ihrem Drängen durch Nächstenliebe oder Humanismus nachzukommen, so könnten wir es doch zumindest aus Vernunftgründen probieren, wie es die große Aicha Ech Chenna vorgeschlagen hat, als sie sich für Straßenkinder in Marokko einsetzte: 'Gebt, denn wenn ihr es nicht macht, werden euch diese Kinder eines Tages die Rechnung präsentieren.'“

Le Clezio schloss seine Rede mit einem Zitat von Martin Luther King: „Wir haben gelernt wie Vögel zu fliegen und wie Fische zu schwimmen, was wir nicht gelernt haben, ist die einfache Kunst des Zusammenlebens unter Brüdern und Schwestern.“

Man kann Le Clezios Plädoyer für pathetisch oder eine raffinierte Werbeaktion in eigener Sache halten, man kann ihn als naiv, weltfremd oder als kitschige Inkarnation des schlechten Gewissens Europas persiflieren, nichtsdestotrotz war diese Rede ein starkes Zeichen und der weithin hörbare Aufruf zu einer veränderten Diskussionskultur.

*

In Österreich würde man Le Clezio – zehn Tage vor der richtungsweisenden Nationalratswahl – vermutlich als „Gutmenschen“, Phantasten oder gar Verräter abqualifizieren.

Laut Umfragen wird die Wahl am fünfzehnten Oktober jener christlich-soziale Politiker gewinnen, der sich rühmt, die sogenannte Balkanroute geschlossen zu haben. Mit ihr scheint auch die Möglichkeit zu einer tiefer greifenden öffentlichen Debatte blockiert zu sein.

Nachdem sich unter dem Druck einer extrem rechten "Heimatpartei" alle größeren Parlamentsparteien auf weitgehende Abschottung verständigt haben, wird über Asyl- und Migrationsfragen nur noch unter negativem, tendenziell paranoischem Vorzeichen diskutiert.

So gesehen hat Le Clezios Rede starken Österreich-Bezug. Es wäre gut, sie in deutscher Übersetzung zu verbreiten, und noch besser, sie von hier aus immer wieder neu zu formulieren.

Sie wäre ein ideales Gegenprogramm zu diesem unwürdigen und verantwortungslosen, die parlamentarische Demokratie nachhaltig schädigenden Wahlkampf-Spektakel.

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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