Montag, 16. Mai 2016

FERNWIRKUNGEN

WO DIE GEFAHR WÄCHST

Über eine kürzlich erschienene Anthologie neuer griechischer Lyrik
und zwei Gedichte von Anna Griva

Ein Gedicht kann man nicht nacherzählen. Bestenfalls lässt sich der Moment vergegenwärtigen, in dem man darauf gestoßen ist und davon elektrisiert wurde. Die Begegnung mit der 1986 in Athen geborenen Schriftstellerin Anna Griva hatte Ereignischarakter. Der Sturz in ihre Gedichte war zugleich ein sehr persönlicher und zutiefst europäischer Moment. Inmitten einer Welle der Re-Nationalisierung und der allgemeinen Zuspitzung der Lebensverhältnisse wurde eine ferne Stimme hörbar, die man seit jeher zu kennen meint.

Anna Grivas Gedicht 'Silk Pure Silk' (Μετάξι ολομετάξι) versetzt seine Leser unversehens in eine provisorische Athener Behausung. Darin agieren Leute, die jenen aus meinem sozialen Umfeld stark ähneln und die ebenso verzweifelt versuchen, den täglichen Betrieb aufrecht zu erhalten. In Athen läuft es noch grundsätzlicher ab: jeden Moment könnte der Strom abgestellt werden, aus dem Wasserhahn dringen sonderbare Geräusche, das Wasser bleibt aus. In einer dieser Wohnungen kommt es zu einer Interaktion zwischen Mensch und Stubenfliege:

I catch a fly in my hands
the anguish of her wings tickles me
if I squeeze a little she dies
if I slacken she gets away
it‘s best I keep still (…)

It‘s best I keep still. – Innehalten, ins Leere sprechen angesichts einer vagen Gefahr, deren konkrete Ausformungen man noch nicht kennt. Die Leser werden Zeugen der unwillkürlichen Einfühlung in ein panisches Insekt. Dem durchschnittlichen Mitteleuropäer könnte dazu Franz Kafkas Verwandlung einfallen, aber Anna Grivas Mutation ist weniger Raum füllend, weniger dramatisch. Sie ist flüchtig, beiläufig wie fast alles, was man alltäglich tut.

Im Mittelteil des Gedichts kommt es zu zwei Anrufungen. Sie sind an eine biblische und an eine mythologische Frauengestalt gerichtet, an Dorkas/Tabita und eine Mänade.
Dorkas ging als Ikone der unerschöpflichen Warmherzigkeit und Hilfsbereitschaft in die Geschichte, die Apostelgeschichte (9,36) ein: "In Joppe lebte eine Jüngerin namens Tabita, das bedeutet: Gazelle. Sie tat viele gute Werke und gab reichlich Almosen…" Die Mänaden waren aus anderen Hölzern geschnitzt. Sie standen im Nahverhältnis zu Dionysos und begleiteten die ihm gewidmeten Umzüge. Dabei trugen sie Reh- oder Pantherfelle und verfielen häufig in Raserei. Was in ihnen oder um sie herum bebte, war zu stark um ruhig bleiben oder strukturiert sprechen zu können.

Was tun? Die Hand öffnen, sodass die Handfläche für die Fliege zur Startpiste wird, oder die Muskeln zusammenziehen? Die Fliege aus Anna Grivas Gedicht bleibt unbehelligt. Benommen flattert sie los, geradewegs in den nächst größeren Käfig, in das Raumvolumen, das beide, die Fliege und das dichterische Ich, in sich einschließt. Wenn dieses Zimmer eine Faust ist, was wird es/sie tun, sich zusammenziehen oder öffnen? Ungleiche Gefangene teilen eine Ungewissheit… – to decorate together the night‘s inevitable gordle.

Das unvermeidliche Korsett der Nacht. – Die (An-)Verwandlung ist vollzogen. Während sie bei Kafka noch eine singuläre Erscheinung war, die aus der Sicht einer Disziplinargesellschaft beschrieben wurde, handelt es sich hier um blitzartige Mikro-Mutationen im prekären Jetzt. Sie ereignen sich unter kontrollgesellschaftlichen Bedingungen, wo jeder Einzelne in Personalunion als sein eigener Polizist, Ankläger und Richter auftritt und das globale Scheitern willfährig auf das persönliche Schuldkonto verbucht.

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Karen Van Dyck, Herausgeberin der Anthologie 'Austerity Measures', die auch einige Gedichte von Anna Griva enthält, hat den aktuellen Zustand Griechenlands in einem Essay für The Guardian so zusammengefasst: Hunger, Arbeitslosigkeit, immer weiter gekürzte Pensionen und ruinierte Läden. Strom- und Wasserknappheit haben einen Level erreicht, den man sonst nur aus Kriegsgebieten kennt. Mehr als 27% der Griechen sind beschäftigungslos, 55% der jungen Leute haben das Land verlassen, um im Ausland ein Auskommen zu finden. Im Jahr 2014 wuchsen vier von zehn Kindern in Armut auf: "Die Staatsschulden sind die höchsten in Europa, mehr als 180% des BIP, und die Sparmaßnahmen lassen den Verbleib in der Eurozone ebenso unmöglich erscheinen wie den Ausstieg aus der gemeinsamen Währung. Die Notwendigkeit schneller Antworten wirft die Wählerschaft in politische Extreme. Gebrochene Versprechen und Korruption bringen auf allen Seiten unbegründete Anklagen und Fatalismus hervor."

Griechenland ist ein Modellfall für europäischen Binnenkolonialismus geworden. Jeder Bankrott im Land lässt andernorts die Kassen klingeln. Ein Zehn-Millionen-Menschen-Staat fungiert als Versuchskaninchen, an dem ausgetestet wird, wie weit ein zynisches Wirtschaftssystem gehen kann. Die Generation der Zwanzigjährigen und ihre jüngeren Geschwister müssen sich auf Zukunftslosigkeit einstellen. Das fällt ihnen naturgemäß nicht leicht.

Austerity Measures – Die Maßnahme und das Maßnehmen. An welches Maß will man sich halten? Hier trifft die Unverhältnismäßigkeit der Finanzwirtschaft und ihrer Institutionen auf ein altes Wissen über Proportion und Rhythmus. Die ,Maßnahmen‘ im Titel meinen beides, den Verlauf staatlicher Eingriffe und vor allem die poetischen Strategien, die ihnen entgegen gesetzt werden können: das Versmaß, der Rhythmus, die Vielfalt der Relationen, die sich aus dem Zusammenspiel von Einzelteilen im Bezug auf ein Ganzes ergeben…

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Im Ameisenstaat lässt sich schwerlich denken… – In Anna Grivas Gedicht 'The Ant‘s Lesson' (το μάθημα των μυρμήγκιων) sind es gleichgeschaltete Ameisenverbände, die sich durch den Leser hindurch ihren Weg bahnen. Hier geht es um eine andere Art der Verwandlung, um eine kollektive, massenhafte, scheinbar unausweichliche Tier-Werdung. (Jedes Gedicht von Anna Griva nimmt Bezug auf tierische Mitbewohner.) Es führt in eine Welt, in der es nur noch um das reine Überleben geht; wo alle Menschen aus Dauererschöpfung heraus agieren und keine Ressourcen, wofür auch immer, übrig bleiben. Es ist ein Lebensrhythmus, in dem es keine klärende Leerstelle mehr gibt. Leben unter Bedingungen des Austeritäts-Edikts.

"Tag und Nacht sehe ich von Arbeit zerstörte Menschen. Erschöpfte, verängstigte Menschen. Sieht ganz so aus, als ob man ohne Angst nicht mehr arbeiten könnte. Sieht ganz so aus, als ob man nicht dafür bezahlt würde, dass man sich eine Existenz schafft, sondern dafür, dass man Angst hat…" – So hat es Grivas Schriftstellerkollege Christos Ikonomou ausgedrückt.

Anna Grivas Gedicht endet auf einen Mänaden-Tanz: Wenn man schon nicht denken kann, kommt tanzen am besten. Unter dem fiesen "Gelächter bitterer Verzweiflung" die gesamte verfügbare Restkraft zusammennehmen und spontane Bewegungsskizzen in den Raum zeichnen… – etwas wie Offenheit herstellen…

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Ferne Stimme. – „Ich lauschte ihr, dann fürchtete ich, sie nicht mehr zu vernehmen, die zu mir spricht oder mit sich…“ – Yves Bonnefoy hat diese Stimme, von der sich kaum sagen lässt, ob sie aus dem tiefsten Inneren oder aus weitester Ferne kommt in 'Die gebogenen Planken' (Les planches courbes) als kindliche Kraft und unwillkürlichen Rückgriff auf ein erstes "Umfangen der Welt" gezeigt. Vielleicht ist sie auch nur das Feuer, das in den Augen lodert und das sich nicht durch widrige äußere Umstände abdämpfen lassen will.

Karen Van Dycks Anthologie schärft das Sensorium für leise Gegenkräfte, Gegenentwürfe, die sich in diesen kleinen poetisch-häretischen Verdichtungen aus Sprache manifestieren. Die Beispiele aus der Anthologie sind Kraftspeicher, die ihre Potenziale blitzartig auf die Empfänger übertragen. Aus ihnen hört man die dichterischen Vorfahren sprechen – von Sappho und Alkaios über Konstantinos Kavàfis (Cavafy) bis zu Jenny Mastoraki –, deren je eigener Ton sich mit den Sprechweisen und Geräuschen der wahnwitzigen Krisenwelt des 21. Jahrhunderts vermischt.

Dichtkunst ist immer international. Sie kann nicht anders. Die territoriale Logik bleibt ihr zwangsläufig fremd. Sie ist Rhythmus, groove, der sich nicht an künstlich gezogene Grenzen hält. Die Gegensätze zwischen nah/fern, fremdartig/vertraut etc. hat sie seit jeher unterlaufen. Wer sich mit ihr konfrontiert, macht eine eigentümliche Erfahrung: Menschen in unmittelbarer Nähe, die denselben Reisepass in der Jackentasche tragen und einen Teil ihrer Informationen aus denselben regionalen Medien beziehen, lösen mitunter nur noch Befremden oder ungläubiges Staunen aus. Aber es gibt eben auch diese anderen, zum Teil längst verstorbenen Geister, die einem über raumzeitliche Distanzen hinweg Feuer geben.

Europa ist neu zu erfinden, daran führt kein Weg vorbei. Dieses andere Europa zeichnet sich vorläufig nur in vagen Umrissen ab. Die junge griechisch-europäische Lyrik lässt es diskret anklingen…

Bernhard Kellner

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Griva_Ants_Anfang

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Literatur

Karen Van Dyck, Austerity Measures: The New Greek Poetry, London: Penguin Books, 2016.

Anna Griva, Έτσι είναι τα πουλιά / So Are The Birds. Gedichte; aus dem Griechischen von Yannis Goumas, Athen: Gabrielides, 2015.

Yves Bonnefoy, Die ferne Stimme in: Die gebogenen Planken. Gedichte; aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Stuttgart: Klett-Cotta, 2004.

Christos Ikonomou, Warte nur, es passiert schon was. Erzählungen aus dem heutigen Griechenland; aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand, München: C.H. Beck, 2013.

Constantin Cavàfis, Choix de poèmes, traduit par Michel Volkovitch; Athènes: Aiora, 2015.

Donnerstag, 4. Juni 2015

LEBENDIGKEITEN

Bis um ein Uhr früh, heißt es, habe man in der Vollmondnacht bei Kanzlerin Merkel in Berlin über das weitere Schicksal Griechenlands diskutiert. Als erster sei François Hollande aufgebrochen, am längsten geblieben Christine Lagarde. Es hat schon etwas Befremdliches, wenn man zur selben Zeit mitten in Athen am Omonia-Platz sitzt und die neuzeitlichen Schicksalsgötter der Brüsseler Gruppe vor seinem inneren Auge vorüberziehen lässt: Mario Draghi, Jean-Claude Juncker und wie sie alle heißen… – das Europa der Institutionen.

Die Leute am Omonia-Platz haben nicht die Zeit, den nächsten Richterspruch aus Berlin abzuwarten. Die Druckverhältnisse sind enorm. Sogar die Tauben sind hier schlanker als andernorts. Die Bausubstanz verfällt, ehemals belebte Passagen bergen nur noch leere Geschäftslokale aber bieten den Obdachlosen Schutz vor Sonne und Regen. Man versucht, aus schlechten Bedingungen das Beste zu machen. Die Menschen üben sich in der Kunst des Überlebens und verstehen es, der sich ausbreitenden Wüste etwas wie Lebenssaft oder sogar Lebensqualität abzuringen… – das Europa der alltäglichen Schadensbegrenzung.

Die gesamte Stadt ist von einer Dynamik (gr. dynamis: 'Kraft oder Vermögen, eine Veränderung herbeizuführen') erfüllt, die sich ein Big Player in Brüssel oder Berlin nicht einmal in Ansätzen vorstellen kann. Dafür fehlt ihm naturgemäß der Sinn. Und war es nicht genau diese Rest-Lebendigkeit, die den Griechen im medialen Dauer-Bashing vorgeworfen wurde? – „Werdet endlich wie Deutsche!“ Sie sind es, den Göttinnen und Göttern sei Dank, nicht geworden.

Ein paar Schritte in Richtung Nordosten befindet sich Exarchia, das interkulturelle Kraftzentrum der Stadt, ein paar Schritte in Richtung Süden liegt der Syntagma-Platz mit dem Regierungsgebäude; ein paar Meter weiter gerät man bereits in den Sog der Akropolis. An jedem Standort stellt sich dasselbe Gefühl ein: Alles hier möchte blühen aber stößt auf ein Hindernis.

In Berlin wird indessen die große Machtgeste vollzogen. Es gehe um viel, sagt man, bis Freitag müsse Griechenland dreihundert Millionen Euro an den Internationalen Währungsfond (IWF) überwiesen haben; eine Summe die man hier gut gebrauchen könnte, z. B. für soziale oder sozialmedizinische Maßnahmen. Parallel dazu erlebt man in Athen diese unglaubliche Fülle an kleinen, erfinderischen, liebenswürdigen, hilfsbereiten oder witzigen Gesten, die auf bitter-ironische Art verdeutlichen, wie weit sich die Menschen Europas von den Institutionen (oder umgekehrt) entfernt haben.

Athen wird sich nicht unterkriegen lassen. Das Banken-Imperium kann die Lage weiter verschlimmern, zu Fall bringen wird es die Stadt nicht. (Gemäß den Forderungen der Eurogruppe und des IWF müssten neben dem Verkauf oder der Privatisierung der vorhandenen Infrastruktur auch kleine Pensionen weiter geschrumpft werden.) Die europäischen Erbsenzähler sind mächtig, ob sie auch der angewandten Weisheit der Göttin Metis gewachsen sind, wird sich erst zeigen.

Europäischer als man es hier ist, kann man nicht sein. Aber möglicherweise handelt es sich um ein anderes Europa als es die Repräsentanten der Brüsseler Gruppe vorsehen. Dieses andere, tatsächlich offene, improvisierende, im ursprünglichen Sinn demokratische und in tausend Kooperationen sich entfaltende Europa kann nicht mehr erstickt werden…

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Ein Kompromiss, heißt es, sei in Sicht. Wenn die Information stimmt, wird er nicht nur Griechenland „retten“, sondern auch die Europäische Union. Noch gilt Griechenland als das desolate Haus, für dessen gründliche Sanierung das Geld fehlt. Aber je länger der Schuldenstreit anhält, desto sichtbarer werden auch die Planungsfehler, Baumängel und Risse am 'Haus Europa'…

Donnerstag, 22. Januar 2015

SONDERFÄLLE

Caligaris. Nicole Caligaris, geboren 1959 in Nizza, Schriftstellerin, als solche schwer einzuordnen, poetisch hochgradig unberechenbar, eine Sondererscheinung innerhalb der französischen Gegenwartsliteratur. Leider wurde bislang keines ihrer Bücher ins Deutsche übersetzt, aber ich gehe davon aus, dass sich das bald ändern wird. Vier Caligaris-Bände liegen neben mir am Schreibtisch, ein fünfter befindet sich am Postweg.

Zwei davon möchte ich näher vorstellen: Der erste heißt Les chaussures, le drapeau et les putainsDie Schuhe, die Flagge und die Huren. Der kleine, kaum siebzig Seiten lange Essay erschien 2003. Zwölf Jahre danach entfaltet er erstaunliche Aktualität. Es ist ein einprägsames Buch zum Thema Arbeit. Der zweite, Le Paradis entre les jambesDas Paradies zwischen den Beinen, erschienen 2013, ist eine denkbar beunruhigende autobiographische Abhandlung zum Thema Kannibalismus.

Dazwischen publizierte Caligaris mehrere Romane. Einer von ihnen trägt den Titel Okosténie (2008). Das Wort geht auf den serbischen Schriftsteller Miroslav Popovic (1926-1985) zurück, der im ehemaligen Jugoslawien Marschall Titos Säuberungsaktionen zum Opfer gefallen und mehrere Jahre in Gefängnissen interniert war. Okosténie bezeichnet den lethargischen Zustand, in den das Folteropfer während der Tortur verfällt.

Arbeit - Folter - Kannibalismus. Möglicherweise eignen sich diese drei Worte bereits als erste Charakterisierung von Caligaris Werk, vorausgesetzt man denkt dabei nicht an ein den Gesetzen des Buchmarkts geschuldetes Kalkül – cruelty sells – oder an trivialen Voyeurismus. Caligaris Themen erscheinen groß und gnadenlos, sie zielen auf Sachverhalte, die in unserer Lebenswelt fest verankert und trotzdem schwer zu fassen sind. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Freiheit und Behutsamkeit die Autorin sich durch die Kreise der Hölle bewegt.

Behelfsweise könnte man Caligaris Werke als poetische Phänomenologien betrachten. Entlang ihrer Prosa wird das Alltägliche fragwürdig und das Fremdartige erstaunlich greifbar. Jedes ihrer Bücher scheint einer doppelten Intention zu folgen, einer offensichtlichen, die sich meist schon im Titel zu erkennen gibt, und einer verborgenen, die sich dem Leser erst allmählich erschließt. Das zwischen den Zeilen Gesagte gewinnt seine ganz eigene Konsistenz. Leserin und Leser haben die Wahl, ob sie Caligaris' Prosa lieber an den Oberflächen oder entlang der abgeschatteten Rückseiten folgen möchten.

Mir haben sich ihre Bücher als schaurig-schöne Landschaften ins Gedächtnis eingeprägt. Arbeits-, Folter-, Kannibalismus-Landschaft. In manchen Passagen bedauerte ich, nicht rechtzeitig die Straßenseite gewechselt zu haben, unmittelbar darauf folgten die Momente, in denen ich froh war, es nicht getan zu haben. Es waren Leseereignisse, deren anhaltende Wirkung durch das bloße Weglegen des Buches nicht gestoppt werden konnte.

Ich nenne es den Caligaris-Effekt: Diese Texträume durchstreift man nicht nur einmal, sondern es zieht einen – nicht unähnlich dem Verbrecher, von dem es heißt, er kehre zwangsläufig zum Ort seiner Tat zurück – immer wieder hinein. Es gibt dort etwas, das die Grausamkeit, den Skandal, das absolut Uneingestehbare unserer Epoche nicht nur auf den Punkt, sondern zum Vibrieren, zum Schwingen oder Tanzen bringt. Diesem ominösen Etwas möchte ich ein Stück weit folgen.

*

Die Schuhe, die Flagge und die Huren

Was ist Arbeit? – An abstrakten Definitionen mangelt es nicht. Die Physik definiert sie als Produkt einer Kraft k, die entlang der Wegstrecke s gegen einen vorhandenen Widerstand wirkt. Die Philosophie begriff sie bis ins 19. Jahrhundert hinein als Gegensatz zur Muße - also Mühsal, Plage. Im heutigen Verständnis ist sie der zielgerichtete Einsatz körperlicher und geistiger Kräfte zur Befriedigung von (primären, sekundären, tertiären…) Bedürfnissen.

Was mit Arbeit zu tun hat, ist meist konkret: vom Bewerbungsgespräch über Druckverhältnisse, Erfolgserlebnisse, Gehaltsvorstellungen bis hin zur kollektivvertraglichen Regelung, dem Konkurrenzkampf oder der Kündigung. Zum Thema Arbeit hat jeder Mensch etwas beizutragen, jede Lebenszeit ist eine mehr oder minder geglückte Abfolge von Arbeitserfahrungen.

Caligaris führt die sich über zweieinhalb Jahrtausende spannende Abstraktion und die äußerste Konkretion von Arbeit auf engstem Raum zusammen. Ihre poetische Versuchsanordnung beginnt mit einem Verweis auf Hannah Arendt, in deren Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958) drei Grundtätigkeiten des menschliche Lebens bezeichnet werden: Arbeiten - Herstellen - Handeln.
Arbeit bezeichnet darin den Zwang zur Erhaltung des Lebens, dem der Mensch von seiner Geburt bis zum Tod unterliegt; sofern sie dem Fortbestand der Gattung dient, ist sie nicht ausschließlich dem Menschen vorbehalten - Figur des animal laborans. Herstellen meint die Produktion dauerhafter Dinge, die in der Folge das Erscheinungsbild unserer Welt prägen - Wirkungsmacht des homo faber. Handeln und Sprechen bezeichnen das Vermögen, den Raum zwischen den Menschen fruchtbringend zu bespielen: Interaktion, Kommunikation, Hervorbringung von Öffentlichkeit: „Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart.“ (Hannah Arendt)

In welches Verhältnis diese Grundtätigkeiten zueinander treten, wäre für jede Gesellschaftsform und Epoche eigens zu bestimmen. Der antike griechische Stadtstaat hatte andere Vorstellungen bezüglich Arbeit, Herstellen, Handeln als die christliche dominierte Welt an der Schwelle zur Neuzeit. Was die modernen Industriegesellschaften praktizieren, bedeutet für Arendt den Sieg des animal laborans: „In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in einen Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht.“

In Caligaris‘ Buch werden Arendts Thesen zum Rohmaterial einer Komposition: Variationen über ein Thesenkonglomerat. Die aktuelle Relation von animal laborans, homo faber und der Möglichkeit zur gesellschaftlicher Teilhabe werden zum Klingen und zwischenzeitlich - wie im richtigen Leben - zum Schweigen gebracht.

Die Autorin kennt die vielfältigen Schrecken, die durch Arbeit verursacht werden: den Schrecken derer, die ihr geduldig nachgehen und dabei nicht mehr zum Denken und Atmen kommen; den Schrecken derer, die keine Arbeit haben und die Möglichkeit ihrer Versklavung überhaupt erst suchen und finden müssen; den Schrecken derer, die zwar einer Arbeit nachgehen, beispielsweise jener der Schriftstellerin, sie aber täglich neu legitimieren müssen.

„Mit den letzten Ausdünstungen des Wohlstands sind auch die Sternbilder glücklicher Arbeit verschwunden. Arbeiten heißt leiden, man ist krank – mit oder ohne Arbeit. Die Qual ist unsere Lebensart geworden: die Bedingtheit des modernen Menschen.“ (S.7)

Arbeit: unsere Angst

Zwei Gottheiten assistieren Caligaris bei der Herstellung ihres Klangkörpers. Bezeichnenderweise stammen beide aus Griechenland. Die erste kennt man aus der antiken Mythologie. Es ist Sisyphus, laut Homer „der Schlaueste unter den Männern“, der aber, seit er den Zorn der Götter auf sich gezogen hat, dazu verurteilt ist, einen riesigen Stein auf einen Hügel zu schieben, und zwar bis zu dem Punkt, an dem er ihm entgleitet und wieder hinunterrollt, sodass das grausame Spiel von neuem beginnt; das an Folter gemahnende Bild des animal laborans.

Die zweite Quasi-Gottheit stammt aus Primo Levys Bericht La tregua (1946; Die Atempause), in dem er seine Befreiung aus dem KZ Auschwitz und die darauf folgende Irrfahrt durch das verwundete Europa anno 1945 beschreibt. Eine der einprägsamsten Gestalten aus diesem Bericht ist Mordo Nahum, der Grieche: er ist die Fleisch gewordene instrumentelle Vernunft, Nutzdenken in Reinkultur, das Urbild der wandelnden Ich-Aktie, zu der wir alle mutiert sind; ein Zerrbild des homo faber.

Mordio Nahum, was für ein Name!

Im Gegensatz zu den anderen aus dem KZ Befreiten trägt Mordo blank geputzte Schuhe: „Wer keine Schuhe hat, ist ein Dummkopf.“ Während die anderen nur besitzen, was sie unmittelbar am Leib tragen, schleppt er einen prall gefüllten Sack, d. h. nein, er schleppt ihn nicht selbst, sondern lässt ihn schleppen. Während die ehemaligen Lagerinsassen sich ungläubig fragen, wie es zuging, dass sie dem Wahnsinn entrinnen konnten, bleibt Mordo Nahum kühl. In der Krankenstation des Lagers sucht und findet er brauchbare Dinge, die ihm etwas wie Zukunft garantieren. Es ist immer gut, etwas zum Tauschen bei sich zu haben.

„Die metallische und vollendete Moral Mordo Nahums ist die Moral eines Sprösslings der Katastrophe, eine Moral nach dem vollzogenen Bruch mit Gott. Moral der Stärke: sogar die Idee der Dienstleistung ist dort ein Skandal, verursacht Übelkeit, Erniedrigung. Es ist die Moral von Menschen, die weder Sklaven noch Schutzbefohlene sind, die sich, jeglicher Kontrolle enthoben, in der Stunde der Prüfung allein zurechtfinden. Mordo Nahum: die Verachtung jeder Arbeit ohne Initiative und ohne Risiko. Für alles, woraus er persönlichen Nutzen ziehen kann, gegen alles, was ihn in seiner persönlichen Freiheit einschränkt: das ist Mordo Nahum.“ (S.14)

Dreimal kreuzt er den Weg Primo Levys durch das zerstörte Europa, dreimal erscheint er auch in Caligaris‘ Text. Nach dem Erlebnis mit den blank geputzten Schuhen sieht man ihn eine Fahne schwenken; es ist die griechische, aber darauf kommt es ihm nicht an. Mordo Nahum hat Universelles im Sinn. Es ist die Flagge anders gearteter Expansionsgelüste, das weithin sichtbare Zeichen einer kaufmännisch-kriegerischen Ethik: „Es ist immer Krieg; und die kurz nach dem Krieg geschwungene Flagge kündigt die Machtergreifung einer Gesellschaft an, in der die Arbeit der Ersatz für die Eroberung ist.“ (S.37)

„Mach Profit mit allen Mitteln…“, rezitiert Mordo Nahum sein profanes Glaubensbekenntnis. „Benutze deinen Nächsten für dich selbst. Handle mit allem, was dir in die Hände kommt, Frauen eingeschlossen“. Bei seinem dritten Auftauchen, hat er sich zum erfolgreichen Geschäftsmann gemausert. Sein inmitten des Chaos improvisiertes Bordell floriert. Attraktive Frauen sind in Zeiten des Hungers leicht zu bekommen, die Nachfrage ist nach den Jahren der Entbehrung groß.

Wir sind Sisyphus

„Wir existieren in der Unterwerfung unter die Wirklichkeit in Form von Zeitplänen, täglichen Pflichten, Stillhalteabkommen, Geldsummen, die zu verdienen und auszugeben und zu verdienen sind… unser Leben verläuft in Kreisform, unser Leben nimmt das Gewicht einer Masse auf sich, die wir anschieben. Unsere Erschöpfung…
Unsere Erschöpfung geht soweit, dass uns der Antrieb zum Sprechen fehlt. Wir halten uns in den Innenräumen unserer selbst auf, in der Finsternis eines Raumes ohne Himmel und einer Zeit ohne Tiefe…“ (S.53)

Changierende Perspektiven: Hier Mordo Nahum, der Erfolgreiche, der seine Aufmerksamkeit an kurzer Leine führt und seinen Blick auf ökonomischen Vorteil dressiert hat; dort die im Buchtitel erwähnten Huren, die für Geld ihre Körper für die Herstellung flüchtiger Befriedigungen einsetzen. Zusammengenommen ergeben sie das Bild der conditio humana nach 1945. Wer ist in diesem Arrangement die tragischere Gestalt? Mordo Nahum in seiner spezifischen Blindheit oder Sisyphus bzw. die Prostituierten in ihrer unauflöslichen Ausgeliefertheit?

Die Frage bleibt offen. Nicole Caligaris moralisiert nicht, sie interveniert. Sie vergegenwärtigt den Sachverhalt und setzt ihm eine offene poetische Form entgegen, die sich jeder Kategorisierung entzieht. Ein Essay ist Les chaussures, le drapeau, les putains nur, sofern man die Bezeichnung Essay im Wortsinn als Versuch auffasst. Eher handelt es sich um ein Gedicht in Prosa oder um einen Gesang, womöglich Höllengesang, in dem das Stoßen, Ächzen, Fluchen des Sisyphus in jedem Augenblick spürbar bleibt.

Der Text hat etwas Theatralisches. Man kann ihn sich in bald lauter, bald leiser werdendem Flüsterton gesprochen vorstellen, z. B. aus dem Mund einer Person, die am Weg durch U-Bahn-Labyrinthe, Werkshallen oder Bürotrakte sämtliche Intensitätsgrade von Rage und Resignation durchläuft. Es ist ein Sprechgesang, aus dem die Leser wohl oder übel ihr je eigenes Stoßen-Ächzen-Fluchen heraushören. Leserin und Leser beschränken sich nicht mehr aufs Lesen, unwillkürlich stimmen sie in den Gesang ein…

Aber da ist noch etwas: Caligaris ruft in ihrem Buch eine Reihe von Dichtern in den Zeugenstand, deren Wortspenden den Text bestirnen. Während man im Normalfall ein Übermaß an Zitaten für unlauteren Wettbewerb hält, werden hier die poetischen Stellungnahmen der Dichterkollegen auf eine Weise in den markant rhythmisierten Textfluss eingefügt, dass sie wie Strophen wirken. Neben Homer und Dante kommen Paul Nizon, Victor Segalen, Robert Linhart, Fernando Pessoa, Henry Thomas, Albert Camus, Roger Caillois, Simone Weil, Erri de Luca, C. Wright Mills und André Breton zu Wort.

Daraus ergibt sich etwas wie Öffentlichkeit. Die Textpassagen fungieren als Fensteröffnungen, die den finsteren Innenraum des Sisyphus-Monologs mit einem vielstimmigen Außen in Verbindung bringen. Hier setzt das verloren geglaubte Handeln-Sprechen-Partizipieren wieder ein. Der Antrieb, sich auszutauschen kehrt zurück, wenngleich nur für einen Augenblick:

Es ist der Augenblick des Stillstands, der Totpunkt, bevor der Stein wieder talwärts rollt und Sisyphus neuerlich in die Ebene hinabsteigt. Es ist der kurze Moment, der ihm bleibt, um die Götter, die ihn in die missliche Lage gebracht haben, zu verdammen. Und es ist zugleich der Moment der Literatur, der poetische Augenblick, wenn unvermittelt eine Gegenwelt aufblitzt und Wirkung entfacht. In diese Leerstelle hinein lässt sich die ebenso unpassende wie wirkungsmächtige Frage nach den Grund legenden menschlichen Ambitionen stellen.

Die Literatur hat nur ungehörige Fragen

An dieser Stelle öffnet sich der doppelte Boden von Caligaris' Prosa. Zur Frage Was ist Arbeit? gesellt sich eine zweite: Was kann Literatur? In seiner labyrinthischen Unterkellerung gibt sich das Buch als häretisch-poetologische Abhandlung zu erkennen…

Durch die poetische Optik betrachtet, scheint es, dass Sisyphus und die Huren es doch ein bisschen besser erwischt haben als Mordo Nahum mit seinem charakteristischen Tunnelblick, der zu keiner Frage mehr fähig ist, die über das Rentabilitätskalkül und die Gewinnmaximierung hinausgeht.

*

Als Nicole Caligaris‘ Buch im März 2003 erschien, war von 'Krise' noch wenig zu hören. Die Lehmann Brothers waren erst fünf Jahre später insolvent, die Arbeitslosenzahlen waren vergleichsweise niedrig und die Illusionen intakt; die Textilarbeiterinnen von Bangladesh, die bunten Glamour für europäische Laufstege herstellten, waren noch nicht unter Trümmern begraben.

Zwölf Jahre nach dem Erscheinen von Les chaussures, le drapeau et les putains werden in Griechenland, das in dem Buch so stark präsent ist, millionenfach Gesänge angestimmt, die jenem aus Caligaris‘ Buch stark ähneln.

Bernhard Kellner


* Nicole Caligaris, Les chaussures, le drapeau et les putains, Paris: Éditions Verticales / Le Seuil, 2003.
* Hannah Arendt, Vita activa oder von tätigen Leben, München: Piper Verlag, 1967.
* Primo Levy, Die Atempause, München: Carl Hanser Verlag, 1991.

(La Tregua/The Truce wurde 1997 von Francesco Rosi verfilmt.)

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WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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