Mittwoch, 31. Januar 2018

MONTAGETECHNIKEN

MURIEL PICS DOKUMENTARISCHE ELEGIEN

"Es gibt keine dokumentarische Kunst ohne Trauergesang."

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Aus einem unendlichen Ozean schriller oder nichtssagender Youtube-Bilderfolgen waren unvermittelt Muriel Pics Rügen-Elegien aufgetaucht – drei Minuten und sechsundvierzig Sekunden von unvergleichlicher Intensität.

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Rügen ist die erste von drei dokumentarischen Elegien um das thematische Spannungsfeld der Utopie. Sie befasst sich mit dem gigantischen Projekt, das die Nationalsozialisten auf der Ostsee-Insel Rügen in Angriff genommen, aber nie fertiggestellt haben: ein für 20.000 Menschen ausgerichtetes Kraft-durch-Freude-Ferienlager als fordistische Regenerations-Maschine. Wozu das daraus gewonnene logistische Wissen in der Folge gedient hat, ist bekannt. Die zweite Elegie Miel handelt vom Traum einer Honigbienen-Zivilisation im umkämpften Palästina, die dritte, Orientation, von einer den Planetenkonstellationen abgeschauten Raumordnung, die einen narrativen Bogen von indianischer Weisheit bis zur Erfindung der Atombombe im Zweiten Weltkrieg spannt.

Die Elegien von Rügen (2016) schaffen mit wenigen Bild-, Text-, Ton-Elementen einen Zustand höchster dokumentarischer Verdichtung: vergilbte Fotos, Landkarten, Grundrisspläne aus dem Archiv – die sprechende und die flüsternde Frauenstimme – monotone Klaviermusik von einer Schallplatte, die immer wieder gewaltsam abgebremst, zum Stillstand gebracht und wieder losgelassen wird.

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Die Dokumente aus dem Archiv stellen mit der forschenden Betrachterin etwas an. Sie beschränken sich nicht darauf, historische Belege zu liefern, sondern übertragen Emotionen. Die dokumentarische Arbeitsweise verlangt nüchterne Distanz, aber es gibt darin auch etwas, das der wissenschaftlichen Herangehensweise zuwiderläuft. Es ist, als ob der Staub, der sich auf den Bildern und Karten angelegt hat, zum eigensinnigen und unberechenbaren Akteur würde.
Zwischen Dokument und Betrachterin setzt ein verstörender Austausch ein. Ein düsterer Gesang, der weder auf das Dokument noch auf die Dokumentaristin zurückzuführen wäre, er setzt irgendwo dazwischen an und breitet sich entlang verborgener Kanalsysteme aus.
Muriel Pics Filme dringen in diesen Kernbereich dokumentarischer Erfahrung vor. In die Momente, wenn etwas wie reine Intuition spürbar wird: Erfahrung im Werden, die sich aus dem Zustand der Formlosigkeit löst und erst allmählich Gestalt annimmt, bis sie zuletzt in Sagen, Sprechen, Reflektieren übergeht.

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Für Muriel Pic ist die Elegie das adäquate Medium, um diese der bewussten Erfahrung vorausgehende Konfrontation mit dem Quellenmaterial zugänglich zu machen. Im antiken Griechenland bezeichnete die Elegie ein in Pentameter, später in Distichen gefasstes Gedicht mit einem vergleichsweise breiten thematischen Spektrum. Sie konnte Lob- oder Kriegslied sein, in ihr klangen philosophische, moralische, politische oder auch subjektiv-erotische Themen an. Die Einengung auf die Totenklage vollzog sich erst in späterer Zeit. Neuzeit und Moderne brachten zahllose Neudefinitionen der Elegie hervor, meist deuteten sie auf eine unüberbrückbare Kluft, einen unwiederbringlichen Verlust oder unauflösbaren Widerspruch.
Für R. M. Rilke wird sie schließlich zu einem von metrischen Zwängen befreite Methodik des rhythmisierten Denkens.
In Patti Smith Elegy (1975) geht es – wie in den meisten anglo-amerikanischen Elegien – um einen Zustand des Zurückgelassen-Seins, dem es nicht mehr darauf ankommt, die Ursache des expansiven Klagegesangs zu bezeichnen. Verlust und Trauer haben sich zu einem Lebensgefühl verdichtet.

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Muriel Pic hat sich als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin mit Henri Michaux, Pierre Jean Jouve, Aby Warburg, Edith Boissonnas, Georges Bataille und Walter Benjamin auseinandergesetzt. Und sie ist eine profunde Kennerin W. G. Sebalds (1944-2001), zu dem sie mehrere Bücher und Essays publiziert hat, darunter L‘image papillon (Das Schmetterlingsbild).
Für ihre Filme hat sie Sebalds literarische Montage adaptiert und radikalisiert. Möglicherweise lässt sich ihr Dokumentarismus am besten anhand ihrer Auseinandersetzung mit Sebalds Werk – das seinerseits auf die poetischen und kulturwissenschaftlichen Methoden Baudelaires und Benjamins zurückgreift – erschließen:

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„Die Erzählungen [Sebalds] sind durch heterogene, in Zeit und Raum verstreute, der Geschichte der Menschheit und der Menschen entnommene Materialien verbunden. Zwischen ihnen treten völlig neue Korrespondenzen, Entsprechungen zutage. Sebald schreibt die Arbeit der Imagination ins Herz des Gedächtnisses ein: nicht nur im Sinn einer Fiktion, sondern im Sinn dieser ,quasi-göttlichen‘ Möglichkeit, die bei Baudelaire die Theorie der Korrespondenzen nährt – ,denn sie erhält zuerst und außerhalb der philosophischen Methoden die intimen und heimlichen Beziehungen der Dinge, Entsprechungen und Analogien‘. (…) Die Vergangenheit betrachten heißt, sich der Empathie aussetzen; das alte Gesetz der Hetzjagd, die den Jäger seiner Beute, einem Schmetterling anverwandelt. Die Recherchen des Autors ähneln jenen des Historikers, führen aber nicht zu einer Spurenanalyse im Hinblick auf eine objektive Wahrheit. Der Blick auf die Vergangenheit fixiert nicht, er nimmt Anteil, vermischt sich mit dem, was war, und verhilft ihm so zu neuem Leben.“ (Muriel Pic)

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Als ich die Rügen-Elegien zum ersten Mal sah, war ich elektrisiert. Zumindest ansatzweise dürfte sich die Erfahrung, die Muriel Pic im Berliner Prora-Archiv gemacht hatte, wiederholt haben. Nun wurde ich selber Zeuge eines Austausches, wie er sich zuvor zwischen den Dokumenten aus dem Archiv und dem forschenden Blick der Autorin ergab. Es fällt mir schwer aufzuzählen, was genau sich während dieser drei Minuten und sechsundvierzig Sekunden zugetragen hat. Sicher ist, dass in meinem Fall auch das Unbehagen in Bezug die gegenwärtig amtierende österreichische Regierungskoalition mit im Spiel war.
Dreiundsiebzig Jahre nach dem Ende des Hitler-Regimes wurde in Österreich eine beachtliche Anzahl deutschnational gesinnter schlagender Burschenschafter in hohe Ämter gehievt. Ein beklemmend revisionistisches Spektakel wurde in Gang gesetzt, die Hoffnung auf eine Überwindung völkischer Phantasmen in Europa hatte sich als Utopie entlarvt. Am Vorabend des Internationalen Holocaust-Gedenktages wurde beispielsweise zum ausgelassenen Tanz fragwürdiger Eliten in die Wiener Hofburg geladen… – Die Rügen-Elegien musste mir in diesem Augenblick als das geeignete Gegengift erschienen sein.

Aber es wäre verfehlt, Muriel Pics dokumentarische Gesänge auf eine Funktion zu reduzieren, selbst wenn es die edelste oder notwendigste wäre. Die poetische Kraft ihrer Filme entfaltet sich erst, wenn man alles, was man darüber zu wissen meint, bewusst in den Hintergrund rückt und sich ganz den Bildern, Worten, Klängen überlässt, bis man von ihrem einprägsamen Ostinato erfasst wird… – Was tun mit den Vermächtnissen? Sie neu erfinden ist das einzige, was bleibt.

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Literatur


Muriel Pic, Élégies documentaires, Collection 'Opus incertum', dirigée pat Jean Christophe Bailly, Paris: Éditions Macula, 2016.

En regardant le sang des bêtes, Lyon: Éditions Trente-trois morceaux, 2017. [Das gleichnamige Video ist ebenfalls auf Youtube abrufbar.]

W. G. Sebald. L’Image papillon (suivi de W.G. Sebald L’Art de voler, trad. en coll. avec Patrick Charbonneau), Dijon: Les Presses du Réel, collection « L’Espace littéraire », 2009.

Le Désir monstre. Poétique de Pierre Jean Jouve, Paris: Éditions du Félin, collection « Les Marches du temps », 2006.

Françoise Clédat, Muriel Pic, 'Élégies documentaires', Note de lecture, Poezibao, 2017.

Freitag, 6. Oktober 2017

WIDERWORTE

"VERANTWORTUNG IST KEIN VAGES PHILOSOPHISCHES KONZEPT, SONDERN GREIFBARE REALITÄT"

Donnerstag, fünfter Oktober, Vollmond, Tag der Verkündung des Nobelpreisträgers für Literatur 2017: Kazuo Ishiguro. Jean-Marie Gustave Le Clezio, französisch-mauritischer Schriftsteller, rastlos Reisender und Nobelpreisträger von 2008, verlas auf france inter einen eindringlichen Appell zu den aktuellen Fluchtbewegungen und Abwehrreaktionen:

„In Wahrheit stellt jedes Drama der Flucht aus armen Ländern dieselbe Frage, die sich einst den Bewohnern von Roquebillière gestellt hat, als sie meiner Mutter und ihren Kindern Asyl anboten: die Frage der Verantwortung.“

Zerrissene Welt. Auf der einen Seite Menschen, die durch den Zufall ihrer geographischen Positionierung, durch ihre seit Jahrhunderten bestehende ökonomische Macht und ihre Sozialisation im Zeichen von Frieden und Wachstum geprägt sind; auf der anderen Seite Völker, denen es am Notwendigsten, vor allem an demokratischen Strukturen mangelt.

Hier kommt Verantwortung zum Tragen. Und die ist kein vages philosophisches Konzept, sondern greifbare Realität.

Die Situation, vor der die nunmehr Entwurzelten geflüchtet sind, wurden von den reichen Nationen geschaffen: zuerst durch die gewaltsame Eroberung der Kolonien, später, nach Erlangung der Unabhängigkeit, durch die Unterstützung der Diktatoren, zuletzt durch das Anzetteln von bis zum Exzess geführten Kriegen, in deren Verlauf das Leben der einen wertlos wird, während sie für die anderen wachsenden Reichtum bedeuten.

Was tun mit dieser Diskrepanz? Wie umgehen mit den zahllosen verängstigten, ausgelaugten, ausgesetzten Leuten? „Können wir sie ignorieren und den Blick abwenden? Akzeptieren, dass sie zurückgewiesen werden als ob ihr Unglück ein Verbrechen und Armut eine Krankheit wäre?“

Wäre eine dritte Position denkbar, zwischen der utopischen Hoffnung auf eine universelle Verfassung – wobei die erste Verfassung, die auf Gleichheit basierte, nicht im antiken Griechenland und auch nicht im Frankreich der Aufklärung geschrieben wurde, sondern in Afrika, im Königreich Mali vor seiner Eroberung – und der paranoischen Abschottung durch präventive Barrieren wie Mauern oder Zäune? Wäre eine von Verantwortung getragene Position denkbar?

„Wenn wir schon diese oder jene, die darauf angewiesen wären, nicht aufnehmen können, und wenn wir schon außerstande sind, ihrem Drängen durch Nächstenliebe oder Humanismus nachzukommen, so könnten wir es doch zumindest aus Vernunftgründen probieren, wie es die große Aicha Ech Chenna vorgeschlagen hat, als sie sich für Straßenkinder in Marokko einsetzte: 'Gebt, denn wenn ihr es nicht macht, werden euch diese Kinder eines Tages die Rechnung präsentieren.'“

Le Clezio schloss seine Rede mit einem Zitat von Martin Luther King: „Wir haben gelernt wie Vögel zu fliegen und wie Fische zu schwimmen, was wir nicht gelernt haben, ist die einfache Kunst des Zusammenlebens unter Brüdern und Schwestern.“

Man kann Le Clezios Plädoyer für pathetisch oder eine raffinierte Werbeaktion in eigener Sache halten, man kann ihn als naiv, weltfremd oder als kitschige Inkarnation des schlechten Gewissens Europas persiflieren, nichtsdestotrotz war diese Rede ein starkes Zeichen und der weithin hörbare Aufruf zu einer veränderten Diskussionskultur.

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In Österreich würde man Le Clezio – zehn Tage vor der richtungsweisenden Nationalratswahl – vermutlich als „Gutmenschen“, Phantasten oder gar Verräter abqualifizieren.

Laut Umfragen wird die Wahl am fünfzehnten Oktober jener christlich-soziale Politiker gewinnen, der sich rühmt, die sogenannte Balkanroute geschlossen zu haben. Mit ihr scheint auch die Möglichkeit zu einer tiefer greifenden öffentlichen Debatte blockiert zu sein.

Nachdem sich unter dem Druck einer extrem rechten "Heimatpartei" alle größeren Parlamentsparteien auf weitgehende Abschottung verständigt haben, wird über Asyl- und Migrationsfragen nur noch unter negativem, tendenziell paranoischem Vorzeichen diskutiert.

So gesehen hat Le Clezios Rede starken Österreich-Bezug. Es wäre gut, sie in deutscher Übersetzung zu verbreiten, und noch besser, sie von hier aus immer wieder neu zu formulieren.

Sie wäre ein ideales Gegenprogramm zu diesem unwürdigen und verantwortungslosen, die parlamentarische Demokratie nachhaltig schädigenden Wahlkampf-Spektakel.

Sonntag, 9. Juli 2017

NISCHENPROGRAMME

ARRABAL IN WIEN

Neunter Juni, neunzehn Uhr, Sargfabrik in der Goldschlagstraße, vierzehnter Wiener Gemeindebezirk, Vollmond. An einem Kaffeehaustisch im Foyer des Theaters saß Arrabal. Er sah müde aus. Nach dem morgendlichen Flug aus Paris und einem Nachmittag in Wien war das nicht weiter verwunderlich. Das Wiener Vorstadttheater gab ein Stück von ihm, Und sie legen den Blumen Handschellen an, eine dramatische Hommage an Frederico Garcia Lorca.

Arrabal ließ es sich nicht nehmen, bei diesem Ereignis persönlich anwesend zu sein. (Übrigens bedeutet 'arrabal‘ im Spanischen Vorstadt.) Dass es sich dabei um keinen von medialen Trommelwirbeln angekündigten Rampenlicht-Event handelte, störte ihn nicht. Im Gegenteil, gerade der Umstand, dass es sich um ein Bühnenexperiment drehte, dessen Darsteller Exilierte und Migranten waren, spiegelte seine künstlerische Intention wider.

An dieser Stelle wäre es angebracht, auf die Theaterproduktion näher einzugehen. Vorläufig nur soviel: Sie hätte größeres Interesse verdient als ihr zuteil wurde. Sie bezog eigentümliche Kraft aus der Sparsamkeit der eingesetzten Mittel, es war Sprechtheater im engsten Sinn: die unterschiedlichen Akzente der Darstellerinnen wirkten wie ein Parallel-Ensemble, das einem ganz eigenen Rhythmus folgte; jeder gesprochene Satz bahnte sich seinen unberechenbaren Weg aus der Kehlkopfgegend ins Offene… Dass die Premiere des Gefängnisstücks nur drei Tage nach der Verhaftung des türkischen Amnesty-Vorsitzenden Taner Kilic stattfand, verlieh ihr besondere Brisanz.

Aber ich möchte Spur halten und bei der Person Arrabal bleiben. Ihr war ich als junger Leser in den späten 1970er Jahren zum ersten Mal begegnet. Arrabals Texte mussten mir damals als Ausweg erschienen sein, als eine unter mehreren Notleuchten, die mir den Weg ins Freie wiesen.

Im Keller der Sargfabrik drängte sich mir das Bild von Arrabals labyrinthischem Gehsteig auf: der erratische Linienverlauf, den dieser so fragil wirkende Mann seit seiner Kindheit in den 1930er Jahren auf den Erdball gezeichnet hat, bevor er an diesem Vollmondabend die Goldschlagstraße entlang kam und die Treppen in den Keller der Sargfabrik hinunterstieg.

Vielleicht lässt sich diese Wegstrecke in schnellem Strich und ohne Anspruch auf Vollständigkeit nachzeichnen, um zuletzt auf einen kürzlich in Le Monde erschienenen Text von ihm zu kommen, der die Person Arrabal und ihre künstlerische Geste auf fast beiläufige Art auf den Punkt bringt.

*

Melilla, 1932 – Am elften August, einem Donnerstag, wurde Arrabal in der Festungsstadt an der nordafrikanischen Mittelmeerküste geboren. Heute kennen wir die Stadt als spanische Exklave und Symbol für die ,Festung Europa‘: die hohe Kunst der Umzäunung, raffinierte Technologie im Dienst der Menschenverachtung usw.. Von dort aus nahm 1936 der Spanische Bürgerkrieg seinen Ausgang.

Arrabals Vater war als Offizier der spanischen Armee in Melilla stationiert. Nachdem er die Teilnahme am Staatsstreich verweigert hatte, wurde er zum Tod verurteilt und in ein Gefängnis in Burgos verlegt. Unter mysteriösen Umständen soll ihm die Flucht gelungen sein. Seine Spur verlor sich. Die Familie erfuhr nie, wann und unter welchen Umständen er zu Tode gekommen war.

Rodrigo bei Salamanca und das Umland von Madrid waren Arrabals Kindheitslandschaften, bevor er 1947 für eine Weile nach Toulouse, später nach Valencia wechselte. Mit der Rückkehr des Zwanzigjährigen nach Madrid begann die schriftstellerische Laufbahn. Er schrieb mehrere Stücke, Le Toit (Das Dach), La Blessure incurable (Die unheilbare Wunde), später Fando et Lis und Pique-nique en campagne (Picknick im Felde), das einige Jahre später zu einem seiner großen Erfolg werden sollte.

Symptome einer TBC-Erkrankung machten sich bemerkbar: Monate der unfreiwilligen Ruhigstellung, des Lesens und der Träumerei. Wo die horizontale Fortbewegung auf Hindernisse stieß, setzten vertikale Bewegungsformen ein: Energieströme zwischen Erdkern und Atmosphäre, oder, wie man im katholischen Spanien gesagt hätte, zwischen Hölle und Himmel.

Bei einem Studienaufenthalt in Paris lernte er Luce Moreau kennen, seine Übersetzerin ins Französische, die ein paar Jahre später seine Ehefrau und die Mutter der beiden Kinder Lélia und Samuel werden sollte. Mit dem endgültigen Wechsel ins Pariser Exil setzte das Stakkato freundschaftlicher Begegnungen und befremdlicher Aktionen ein.

Er traf auf Samuel Beckett. (Es wird generell zuwenig Beckett gelesen.) Der kanadisch-französische Objektkünstler Jean Benoit machte ihn mit André Breton bekannt. Arrabal hatte inzwischen zwei Gedichtbände publiziert, Humbles Paradis (dts.: Insektengedichte) und La Pierre de la folie – darin gibt es ein merkwürdiges und programmatisches Bild:

Einem schlaflosen Geist begegnet jedes Mal, wenn ihm die Lider zufallen, ein Augenpaar, das ihn quasi von der Innenseite her anblickt. Es sind die Augen einer Sphinx in Löwengestalt, es ist die im Louvre befindliche Große Sphinx von Tanis. In ihrem einen Auge erscheint der Schriftzug PEUR/Angst, im anderen ESPOIR/Hoffnung. Kurz darauf wird die Sphinx ihre Augen schließen, die des schlaflosen Geistes sind noch weiter aufgerissen als zuvor: Angst und Hoffnung, diese Bremsbacken. Wenn es doch gelänge, sie beide mit einem Ruck abzuwerfen…

Arrabal wurde eingeladen, sich dem Kreis der Surrealisten bzw. dem, was davon übrig war, anzuschließen. In einem Gespräch mit Alain Schifres schilderte er das Unbehagen, das die Vorstellung, einer bereits bestehenden Gruppe beizutreten, in ihm ausgelöst hatte. In der No.4 der Zeitschrift La Brèche. Action surrealiste publizierte er Auszüge aus dem Stück La Communion solenelle (Die feierliche Kommunion). Zur selben Zeit entstand der autobiographische Roman Baal Babylone (1959), der die Vorlage für seinen ersten Spielfilm Viva la Muerte! werden sollte; darin schilderte er das Franco-Regime und dessen Auswirkungen auf das familiäre Umfeld aus der Perspektive eines Zwölfjährigen.

Während in Paris die ersten Stücke uraufgeführt wurden, reiste er durch die USA. In New York geriet er in das Umfeld der Dichter aus der Beat-Generation. In Paris warteten indessen zwei gleichermaßen exilierte und kongeniale Geister auf ihn, der aus Polen stammenden Autor und Zeichner Roland Topor und der ukrainisch-chilenische Regisseur Alejandro Jodorowsky. Gemeinsam gründeten sie das Mouvement Panique, ein Laboratorium für theatralische Grenzüberschreitungen: „Mein Theater ist antireligiös bis zum Mystizismus oder religiös bis zur Blasphemie.“

1967 kehrte Arrabal noch einmal nach Spanien zurück. Das war, wie sich bald herausstellen sollte, keine so gute Idee. Er wurde wegen "Blasphemie gegen das Regime" festgenommen. Samuel Beckett startete eine internationale Petition, die u. a. von François Mauriac, Eugène Ionesco, Henry Miller unterzeichnet wurde. Aus dieser Zeit stammt das Gefängnisstück dieses Abends.

Anfang der 1970er Jahre lernte Arrabal Pier Paolo Pasolini kennen und begann selbst Filme zu drehen: Viva la muerte! (1971); Ich werde laufen wie ein verrücktes Pferd (1973); Der Baum von Guernica (L‘arbre de Guernica, 1975)… – dieser Film erschien zeitgleich mit Pasolinis auf Sade basierendem Jahrhundertwerk Saló oder die 120 Tage von Sodom; neben diesem Film mussten freilich alle thematisch verwandten verblassen… – La traversée de la Pacifique (1982) mit Mickey Rooney und Le Cimetière des voitures (Der Autofriedhof, 1983) mit der früh verstorbenen Rock-Ikone Alain Bashung in der Hauptrolle; Adieu Babylone (1992), nicht zuletzt Una vida de poesia (1998) mit und über Jorge-Luis Borges

*

Man kann sich dem Arrabal-Universum aus verschiedenen Richtungen nähern, über die Filme, die Inszenierungen der Stücke oder über die in den Theatertexten, Prosastücken und Gedichten versteckten Energiefelder. Ich persönlich neige zum Purismus der Worte, zur knappen, aussparenden Form. Der Abgrund zwischen zwei Textzeilen, die unüberwindliche Distanz zwischen Frage und Antwort im Dialog, das sind die Orte, an denen die Potenziale des alltäglichen Irrsinns am deutlichsten zutage treten. Der initiale Funke einer Ekstase kann mehr als ihre großzügigste szenische Ausformulierung. Es liegt in der Natur der erotischen Obsession, dass sie tiefer und weiter reicht als die Mittel ihrer Darstellung.

(Heute ist die pornographische Industrie für die szenische Inszenierung von Obsessionen zuständig. Sie betreibt ein Werk der Zerstörung. Jede existenzielle Erfahrung erscheint, bevor sie noch gemacht werden könnte, an ein bestehendes Konsumangebot gekoppelt. Jede Frage scheint beantwortet, bevor sie noch entfaltet werden kann. Was immer tiefer greifendes Interesse wecken könnte, wird in vorgefertigten Instant-Intensitäten erstickt. Damit erübrigen sich Denken und Träumen.)

In Arrabals Werk eintreten heißt, sich einem Karneval der Obsessionen anzuschließen. Hier überlagern sich Grausamkeit und Lachen, Jubel und Schmerzgeschrei sind nicht mehr klar zu unterscheiden. Sich auf ihn einzulassen, bedeutet ein temporäres Heraustreten aus der Alltagsvernunft. Das aus den Hohlräumen in seinen Texten hervorquellende häretische Wissen scheint gerade in antiseptischen Epochen wie der unseren wieder an Bedeutung zu gewinnen.

Die finsteren Zonen sind zu durchschreiten. Die abgründige Erfahrung ist im ganzen Ausmaß zu durchleben. Je weniger Angst oder Hoffnung bzw. Kalkül dabei mitspielen, desto besser. Die Treppen hinunter steigen – Katabase – Schichtung um Schichtung hinter sich lassen, um in das noch ferner liegende Areal vorzudringen. Womöglich findet sich ja dort das Rohmaterial, aus dem sich - sofern man es schafft, es zurück hinauf, in strahlendes Sonnenlicht zu hieven - die schönen Dinge herstellen lassen.

Hacedores ist eines der Zauberworte des verspielten Demiurgen, der die finstersten Elemente mit verblüffender Leichtigkeit in freundliche Lichtquellen verwandelt. Hacedores aus dem spanischen ,hacer‘ für machen, herstellen, schaffen… – im antiken Griechenland hatte man es ,poiesis‘ genannt.

(Mag sein, vielleicht ist es nur der Blick auf eine Welt von gestern. Aber es ist zugleich einer auf die perzeptiven und sozialen Werkzeuge, die man in dieser Epoche gefertigt hat und die einiges konnten…)

In den letzten Jahren hat sich Arrabal auf poetische Plastiken spezialisiert. Die in den Texten versteckten Energiekerne nehmen dreidimensionale Form an und gewinnen als Skulpturen, Figurinen, Raum greifende Gedichte oder „prekäre Konstruktionen“ (Léonore Chastagner) haptische Qualität. Zudem wirkt Arrabal als außerordentlicher Satrap im Collège de 'Pataphysique, der denkbar würdigsten real existierenden (para-)literarischen Vereinigung. Und er schreibt in diversen Magazinen wie z. B. La Règle du jeu.

Als 2016 der Literaturnobelpreis an Bob Dylan vergeben wurde, erschien in Le Monde ein kleiner, intensiver Text von Arrabal. Darin klang eine Zornrede an, letztlich blieb es aber bei einer sanften, aber entschlossenen Erinnerung, wo und unter welchen Bedingungen Kunst, Dichtkunst entsteht:

*

"In meinem ganzen Leben habe ich bedauerlicherweise nur sehr wenige Dichter gekannt. Ich habe vor allem Schachspieler besucht. Diese gewaltfreien Boxer, die sich Handschuhe aus Kaugummi überziehen.

… in meinem ganzen Leben habe ich keinen Dichter gekannt, der von seiner Feder leben hätte können. Mit Barcodes.

… in meinem ganzen Leben habe ich keinen reichen oder aus begüterter Familie stammenden Dichter gekannt. Wie Roussel, Proust oder, zu seiner Zeit, Chateaubriand.

… in meinem ganzen Leben habe ich keinen Dichter gekannt, der auf einer Bestenliste hätte aufscheinen können. Weder auf der Liste der 'populärsten', noch der 'reichsten' oder 'berühmtesten' Personen. Auch auf der Liste der 'einflussreichsten' Personen erschienen Dichter, die ich gekannt habe, nicht. Dafür sah ich in fast jedem Jahr die Namen Ophrah Winfrey, Kim Jong-un, George Clooney oder Lionel Messi.

… in meinem ganzen Leben habe ich keinen einzigen Dichter gekannt, der von einem Sekretär begleitet worden wäre. Die meisten hatten oder haben einen Mitarbeiter. Das heißt einen Freund. Einen Intimus, der ihnen freiwillig, auf Mutter-Teresa-Art weiterhilft.

… in meinem ganzen Leben habe ich keinen Dichter gekannt, der gezwungen gewesen wäre, sich zu schützen. Durch Exklusivität. Ausgeweitet auf weltweit gültiges Recht. Für alle und jede einzelne seiner Schriften. In allen Sprachen. Sogar in Volapük für Kanarienvögel. Als ich meinen letzten Film mit Borges (,Une vie de poésie‘) drehte, wurde er spontan von jemanden gefragt: „Wie schützen Sie sich gegen Raubdrucke?“ – „Mich schützen? Es ist mir ein großes Vergnügen so völlig unverhofft hier oder dort publiziert zu werden…“

… in meinem ganzen Leben habe ich keinen einzigen Dichter gekannt, der es „bis hierher“ gehabt hätte, auf das „tausendunderste Interview“ zu antworten. Oder das Vorwort zu einem Werk zu verfassen. Oder Artikel zu schreiben. Oder auf Konferenzen zu sprechen. Die stummen Psychiater sind perfekt für Boa-Gebisse.

… in meinem ganzen Leben fristete der Großteil der Dichter, die zu kennen ich unverdient das Glück hatte, das Leben unter prekären Bedingungen. André Breton hat in Paris in einem winzigen Zwischenstock gehaust. Zwischen zwei Etagen. Er bewohnte keinen zweiten oder dritten Stock, sondern eine Art Studio, das dazwischen eingebaut wurde. Wenn ich ihn getroffen habe, musste ich meinen Körper auf seinem Tisch unterbringen. Der nahm beinahe den gesamten Raum in Anspruch. Boulevard de Port-Royal. Alfred Jarry hat gleichermaßen ein Miniatur-Studio gekannt. Das seine. So ähnlich. Gleichermaßen zwischen einer zweiten und dritten Etage gelegen. Er hat es „Leidensweg zum Tod“ genannt.

… in meinem ganzen Leben habe ich ausschließlich Dichter gekannt, die keinerlei Problem mit 'Steuerparadiesen' gehabt haben. Die meisten starben überschuldet. Zu ihrer größten Ehre. Heute wissen wir (durch jüngere medizinische Studien), dass Alfred Jarry den Hungertod gestorben ist.

… in meinem ganzen Leben hat sich nicht ein einziger meiner Dichterfreunde über diese Situation beschwert. Unwürdig?

… mein ganzes Leben hindurch habe ich die besten unter ihnen ihre Tage unter dauernder Verfolgung durch Gerichtsvollzieher beenden gesehen. Oder bedrängt von mikroskopischen Einkünften. Dank dieser (oder trotz dieser) Einkünfte hat Alfred Jarry die ,Heldentaten und Lehren des Dr. Faustroll (Pataphysiker)‘ geschrieben. Ein exemplarisches Buch. Ein Monument.

… in meinem ganzen Leben haben die Dichter, die ich kannte, die Provokation gehasst oder als unerträglich empfunden. Für sie war sie immer nur eine entsetzliche Wucherung: zufällig, hoffnungslos, sich im Kreis drehend, vor allem unkontrollierbar.

… in meinem ganzen Leben haben sich die Dichter, die ich kannte, weder als Visionäre noch als Propheten betrachtet, sie bezeichneten sich wie ihre griechischen Vorfahren als ,hacedores‘.

… in meinem ganzen Leben haben sich die Dichter, die ich kannte, mit einer Hingabe wie man sie für den Eintritt in eine Religion braucht, für die Literatur eingesetzt. Ohne Haltegriffe. Über nichts als die Leere gebeugt.

Ein ironischer Preis aus der Grauzone

Ich kannte Allen Ginsberg und Andy Warhol… in der Vorgeschichte. Das heißt im Jahr 1959. Wenn er mich sah, lud mich Ginsberg in seinen Verschlag ein. Am selben Abend. Er hat mich mit seinem Freund Pierre empfangen, der nackt war und im Begriff, sich zu entleeren.

In demselben Jahr hat die Fondation Ford sechs europäische Nachwuchsliteraten („die eines Tages Berühmtheit erlange würden“!) dazu eingeladen, die USA kennenzulernen. Trotz dieser Pirouette des Gottes Pan wurde die Fondation auf quasi-magische Art ihrer Aufgabe gerecht. Indem sie Günther Grass für Deutschland, Italo Calvino für Italien, Hugo Claus für Belgien und Tomlinson für England vorschlug. Et tutti quanti. Nur in Bezug auf Spanien haben sie sich getäuscht: denn dafür war ich der glückliche Auserwählte.

Marcel Duchamp realisierte in den USA Étant donnés. Sein gigantisches und entscheidendes Projekt. Dabei findet es sich nur in seinen Heften. Er gab Französischstunden um sein miserables Hotelzimmer bezahlen zu können. Der Grenzen überschreitende Simon Leys musste nach Australien emigrieren. Man Ray war in seinem Pariser Atelier nur durch einen Schirm vor Regen geschützt… Und auch Magritte. Oder Giacometti.

Roland Topor hat sich zum Sterben in ein Wächterhäuschen zurückgezogen. Ionesco hat Jahrzehnte lang unter ähnlichen Umständen gehaust. Beckett hat ein halbes Jahrhundert in der rue des Favorits gelebt. In einer Dienstbotenkammer. Wie fast alle seiner heutigen Kollegen. Wie der Philosoph, der bis ans Ende seiner Tage ein Zehn Quadratmeter-Zimmer mit Simone (Boué; Anm.) teilte.

Einmal verborgen, plötzlich – auf unerwartete Weise – nach dieser ganzen Privation – wird den Verstorbenen schließlich „Ehre“ zuteil. Wie ein ironischer Preis, den sie aus der Grauzone erhalten.

Trotzdem haben die besten unter ihnen unentwegt ihr Leben verändert. Und die Welt. Und sogar die simple politische Geographie. Mit ihren Fraktalen, ihrer Inkompatibilität, ihrem Tohuwabohu.

Keine Zivilisation war je in der Lage, ein solches Ausmaß an Gewissheit zu generieren. Wäre womöglich die Konfusion das ideale Gegenprogramm, um sich aufrecht zu erhalten? Haben alle Dichter im Schweiße ihrer Undiszipliniertheit gelebt? Zugleich hier und am äußersten Rand?

Ja. Die 'lebenden Dichter' sind es nur im Moment ihres Verborgen-Seins. Definitiv." (Fernando Arrabal)

(Übersetzung: Bernhard Kellner)

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WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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