Sonntag, 6. Februar 2011

ZUVERSICHTEN

Anmerkungen zu Lourdes von Jessica Hausner

Eingangssequenz. – Der leere Speisesaal eines Hotels oder einer religiösen Einrichtung. Die Ausstattung ist sehr nüchtern, die einzelnen Tischparzellen sind durch Pflanzengestecke voneinander abgetrennt. Mit dem Einsatz von Schuberts Ave Maria beginnt sich der Raum allmählich zu füllen. Erste Gäste betreten das Bildfeld, einige kommen ohne Hilfe voran, andere sind auf Begleitpersonen angewiesen. Einer der Gäste verfügt über einen motorisierten Rollstuhl; er liebt es, die Kurven scharf anzufahren und kontrapunktiert damit die sonst eher bedächtigen Bewegungsabläufe. Die Betreuerinnen tragen weiße Schleier und leuchtend rote Wolljacken. Sie zeichnen bewegte Muster, moving patterns, ins Gewusel des inzwischen stark frequentierten Speisesaals…

Das Lächeln.– Die Kamera hat ihre leicht erhöhte Position verlassen und sich unter die Gäste gemischt. Sie bewahrt in jedem Moment respektvolle Distanz zu Körpern und Gesichtern. Erstmals nähert sie sich der jungen Heldin, der an multipler Sklerose erkrankten Christine (Sylvie Testud). Die blickt, bevor sie sich weiter füttern lässt, über ihre linke Schulter und lächelt frontal in die Kamera. Es ist ein rätselhaftes Lächeln, bitter, freundlich, ironisch… – es wirkt wie ein Verfremdungs-Effekt im epischen Theater. Dieses Lächeln könnte pars pro toto für die Gemütslage des gesamten Films stehen…

Handlungskreise. – Das filmische Geschehen vollzieht sich innerhalb von drei ineinander greifenden (Inter-)Aktionskreisen. Der erste Kreis zeigt die Gesamtheit aller an einer funktionierenden Hoffnungsindustrie beteiligten Personen. Das sind nur zu einem geringeren Teil Wallfahrer, vor allem sind es Dienstleister: Mitarbeiter der Gastronomie, des Devotionalienhandels, der Personentransportation etc. Die gesamte Logistik, die das florierende Wallfahrtsunternehmen Lourdes in Gang hält, wird im Bildhintergrund sichtbar. Der zweite Aktionskreis setzt sich aus einer kleinen Gruppe von Wallfahrern und ihren Begleitern zusammen. Hier finden sich alle denkbaren Motivlagen, verschiedenste Graduationen von Gläubigkeit oder angewandtem Zweifel. (In diesem Kreis entfaltet der Film eine besondere Kräftigkeit: Jede Nebenfigur prägt sich dem Betrachter auf ganz eigentümliche Weise ein.) Der innerste Aktionskreis betrifft Christine und ihr unmittelbares räumliches und gegenständliches Umfeld…

Seh- und Sprechakte. – Meist erleben wir Christine schweigend. Sie praktiziert ein sehr beredtes Schweigen. Der Blick des Betrachters bleibt eng an ihrer Blick- und Gedankenführung haften. Wenn sie zum Sprechen ansetzt, kommen vor allem zwei Formen des Sprechaktes zum Einsatz: die halb-monologische des Gebets oder der Beichte und die dialogische, alltägliche Kommunikation. Die zweite, an sich gängigere Kommunikationsform blitzt für Christine meist nur momenthaft auf, wenn sie sich beispielsweise mit einem altgedienten Betreuer (Bruno Todeschini) über frühere Reisen unterhält…

Dramatische Zuspitzung. – Das Unwahrscheinliche geschieht. Während Christine programmgemäß durch den Schacht geschoben wird, in dem einst die Heilige Jungrau erschienen sein soll, gelingt es ihr, den Arm ohne fremde Hilfe zu heben. Etwas später kann sie sich aus eigener Kraft aus dem Rollstuhl erheben. Das Wunder zeitigt sowohl gruppendynamische als auch bürokratische Wirkungen. Sowohl streng Gläubige als auch notorische Zweifler erhalten frische Nahrung für ihre jeweilige Überzeugung, wobei es zu merkwürdigen Verschiebungen und Vermischungen der Positionen kommt; der Neid-Affekt erweist sich als unauslöschlich. Nun muss sich Christine den Instanzen der Wunder-Verifikation stellen. Sofern die erste schulmedizinische Untersuchung vor Ort die plötzliche Heilung als wundersam durchgehen lässt, wird eine Kommission einberufen, die den Fall letztgültig bewerten wird…

Schwebezustände. – So unsicher und unentschieden wie Christines erste Schritte bleibt – auch für sie selbst – die Kraftquelle, die sie aus ihrem Handicap befreit hat. Whodunit? War es tatsächlich die Unbeirrbarkeit des Glaubens, gar die Heilige Jungfrau? Oder waren es profanere Dinge wie z.B. der Groll, den sie gegen ihre unverlässliche und provokant lebenslustige Helferin hegte, oder die Sympathie, die sie für den altgedienten Betreuer empfand? Darin liegt eine spezielle Weisheit dieses Films: Er versetzt alles in Schwingung, belässt alles im Schwebezustand…

Räume, Gegenräume. – Welche Räume öffnet der Film, die man so noch nie gesehen, geschweige denn durchmessen hat? Es ist, als ob sich die Denkblase, die über Irene schwebt, während sie mit weit geöffneten Augen an die Zimmerdecke starrt, zu einem konkreten, begehbaren Ort verdichtet und verallgemeinert hätte. Der Film spielt an einem Ort, den jeder kennt und der überall zur Sprache kommt, wo Menschen miteinander in Kontakt treten: Es ist der Ort, an dem Zuversicht verhandelt und die verbleibende Möglichkeit berechnet wird…

grasfüße - 15. Feb, 15:12

Hab noch nie und nirgendwo im Netz was kommentiert (deswegen die "flüsternden grasfüße", die sich, wie inger christensen schreibt, durch uns hindurch schleichen), aber jetzt muss es sein:
Josef Winkler hat "Lourdes" auch schon kommentiert, danach wollte ich den Film nicht mehr sehen - vergessen, warum nicht, wahrscheinlich wollt ich ihn schon vor Winkler nicht sehen -, aber jetzt dann doch wieder doch und vielleicht: Der Glaube ist längst weg an die Räume hinter den Räumen, an die Hinterräume (sie haben sich als zumeist bloß üble Orte erwiesen) sowieso, an die Gegenräume auch, es gibt nur den vielfältig in sich gekrümmten und - je nach Perspektive - durchdachten, durchsuchten oder eben durchschrittenen, durcheilten, durchatmeten und durchschlichenen...

Ich kann mich nicht erinnern, in letzter Zeit einen ähnlich schönen Beitrag über "Räume" (eigentlich wird hier ja aus einem Nomen eine Aktivität: räumen) gelesen zu haben, die mich den Film fast schon sehen lassen und denken machen.

Und ich zünde eine Kerze für den letzten Absatz an, und mehr noch: ein ganzes Kerzenarsenal soll aufsteigen für den letzten Satz: ... der Ort, an dem Zuversicht verhandelt und die verbleibende Möglichkeit berechnet wird... Ein Satz zum Auswendiglernen und Inwendigverhandeln, dann summen in seinem etwas traurig anmutenden Singular schon Welten.

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

filmbilder_leser

DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

ZEITFENSTER

Februar 2011
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
23
24
25
26
28
 
 
 
 
 
 
 

SUCHHILFE

 

GEGEBENHEIT

Online seit 4857 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 22. Jun, 00:49

ABSPANN


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren