Donnerstag, 9. Februar 2012

FUNKENFLÜGE

Frechdachse an die Macht

An einem Freitag, spätnachts, der Blick war bereits auf Streumodus umgestellt, befand ich mich in einem U-Bahn-Waggon der Linie 2 am Weg von der Taborstraße zum Volkstheater. Beim ersten Zwischenstopp, Station Schottenring, stellte sich unerwartete Aufmerksamkeit ein. Mein Blick war mit einer handgeschriebenen Aufschrift kollidiert: Frechdachse an die Macht. Der Schriftzug war zirka zwei Meter lang und einen halben Meter hoch. Er befand sich knapp über Kopfhöhe der am Bahnsteig wartenden Leute und passte exakt in eine der glänzend weißen Kunststoffplatten, mit welchen die neu errichtete Station ausgekleidet wurde. Er war zugleich Schrift und Zeichnung oder markierte den Ort, an dem beide ineinander übergehen. Der Satz musste mit einem fetten Marker aufgetragen worden sein, war also nicht aufgesprüht, aber er schien seinerseits zu sprühen. Er versprühte die Freude der Person, die ihn dort hingezeichnet hatte. Ich hatte den Eindruck, dass der Schreiber oder die Schreiberin zur „Tatzeit“ nicht allein unterwegs war. Der Spaß, den die anonymen Künstler bei der Aktion gehabt haben mussten, war in bemerkenswerter Intensität auf mich, den zufälligen Betrachter ihres Werks, übergesprungen.

Beim ersten Buchstaben des dritten Wortes musste es eine Irritation gegeben haben. Im bestimmten Artikel vor dem Wort ,Macht‘ gab es eine Ausbesserung. Sie ließ den Buchstaben ,d‘ wie ein kryptisches Zeichen aussehen. Handelte es sich um einen fehlgeleiteten Impuls beim Schreiben oder um eine von außen kommende Störung, z. B. den Auftritt eines Ordnungshüters oder eine akustische Drohung aus dem Lautsprecher? Noch bevor ich den Graffito genauer in Augenschein nehmen konnte, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Von diesem Moment an war ich auf das innere Bild angewiesen, das ich von dem spontan gefertigten Kunstwerk unwillkürlich angefertigt hatte.

Frechdachse an die Macht. Seit jeher hege ich große Sympathie für die namenlosen Aktivisten der street art. Deutlich erinnere ich mich an die Eröffnung des Wiener Museumsquartiers im Spätsommer 2001. „Alles schön und gut“, befand die Gruppe, mit der ich unterwegs war, „aber wann kommen die Graffitimaler?“ Die repräsentative Anlage musste noch entsterilisiert, vermenschlicht werden. Angesichts des frisch renovierten Theseustempels im Volksgarten wandelte sich die Frage in ein verzweifeltes Stoßgebet. Wenn es im Bekanntenkreis zu diesbezüglichen Meinungsverschiedenheiten kommt, schrecke ich nicht davor zurück, weitläufige Argumentationsbögen zu spannen:

Die Höhlenbilder von Lascaux gelten bekanntlich als Geburtsstätte der Kunst. Hätten sich die malenden Höhlenbewohner von den Warnungen ihrer nicht-malenden Zeitgenossen abschrecken lassen, wäre der gesamte Zivilisationsprozess anders verlaufen. Ein Lascaux-Experte kommentierte die jungsteinzeitliche Sensation mit folgenden Worten: „Mit einem Male stellte die Kunst dem materiellen, nützlichen Leben diese nutzlosen und verführerischen Zeichen gegenüber, die, aus Gemütsbewegung geboren, sich an das Gemüt wenden.“ Anders ausgedrückt: Vor ungefähr 20.000 Jahren hatte eine fruchtbare Spaltung stattgefunden, durch die der Mensch sich aus dem Bloß-Notwendigen befreit und, trotz der prekären Rahmenbedingungen, einen energetischen Überschuss freigesetzt hatte, der für kultische Handlungen oder ästhetische Eingriffe in die unmittelbare Umgebung genutzt werden konnte oder musste.

Der Zeit ihre Kunst. In einer Epoche, in der alles Sichtbare und Hörbare von tendenziell freudlosem Konsumismus und seiner charakteristischen Lärmentwicklung kontaminiert ist, braucht es diese Art Schachtkunst. Nicht alle Gemütsregungen lassen sich an Konsumationen binden, vieles bleibt unbeantwortet. Diesem Mangel an Antworten entspricht der rettende Überschuss, der dazu drängt, das Formlose, Nicht-Greifbare sichtbar zu machen. So entstanden diese unwahrscheinlichen, mit geschickten Händen und leuchtenden Farben fabrizierten Öffnungen in den Mauern und Tunnels der Jetztzeit. So kam es, dass sich dem gebeutelten U-Bahn-Benutzer dreidimensionale Animationen darbieten, wo es normalerweise nur noch Schwarz zu sehen gäbe. Und so haben die Frechdachse in das Erscheinungsbild der U-Bahn-Station Schottenring eingegriffen, den blendend-weißen Hintergrund ein wenig abgeschattet um dadurch eine andere Lichtquelle sichtbar werden zu lassen.

Frechdachse an die Macht. Die verspielte Parole hatte sich in mir festgesetzt und mich vor ein Deutungsproblem gestellt: Wer genau begehrte hier Zugang zur Macht? – Die Frechdachse, gut. Aber waren es nicht gerade die gegenwärtig Mächtigen, die sich durch fast übermenschliche Frechheit auszeichneten? Gorbach, Schüssel, Strache, Grasser, Strasser, das ganze fehlgewählte Konsortium der endlos wiederholten Unschuldsvermutung? Diese Leute, so meine vorläufige Antwort, zeichnen sich zwar durch Frechheit aus, nicht aber durch den Dachs. Ihrer Gier mag etwas Animalisches anhaften, keinesfalls aber würde ein sprachempfindlicher Mensch aus dem street art-Umfeld eine Tiermetapher dafür verschwenden. Er würde etwas Abstraktes wählen wie den Suffix ,-ling‘ in ,Frechling‘ oder einen Vergleich aus der Dingwelt wie zum Beispiel ,Beutel‘ oder ,Sack‘… – Dann wäre also der Dachs der Garant für die Qualität jener anderen Macht, die, buchstäblich von unten her, aus dem U-Bahn-Schacht an die Oberfläche drängt? Justament Grimbart, dieser nachtaktive Geselle mit seiner rüsselartigen Schnauze und dem schwarz-weiß gestreiften Fellbesatz am Kopf?

Der entscheidende Zuwachs an Erkenntnis stellte sich erst ein, als ich meinen Unterstand erreicht hatte und zielsicher zwei schmale Bücher von Emmanuel Hocquard aus einem Bananenkarton zog. Da war er: meles meles, der Europäische Dachs aus der Familie der Marder (Mustelidae), in voller Pracht und als des Rätsels Lösung.

Der französische Dichter Emmanuel Hocquard versteht es wie kein anderer, die Schriften des Philosophen Ludwig Wittgenstein mit jenen amerikanischer Krimiautoren so zu kreuzen, dass eine unvergleichliche, ebenso dichte wie leichte poetische Prosa daraus entsteht; im deutschsprachigen Raum führen seine kriminalistischen Ermittlungen im Feld der Sprache immer noch ein Schattendasein. Er war es, der den Dachs (frz. blaireau) nicht nur zum Namensgeber einer literarischen Gattung (le blaireau), sondern auch einer poetischen Praxis (blaireauter) gemacht hat. Das Zeitwort ,dachsen‘ weist zwar gewisse Ähnlichkeiten mit dem deutschen ,flachsen‘ (Spaß machen, sich necken) auf, geht aber weit darüber hinaus. Hocquards Dachsereien gleichen eher dem von H. C. Artmann und Konrad Bayer propagierten 'poetischen Act', sofern man alles Laute, Breitenwirksame, Aktionistische daraus abzieht:

„Von außen gesehen ist der Dachs: a) bis zur Lächerlichkeit nutzlos; b) skandalös privat; c) auf übertriebene Weise spekulativ und experimentell.
Für den, der ihn macht, ist der Dachs: a) notwendig; b) eifrig; effizient. Er antwortet auf eine Dringlichkeit. Die plötzliche Befragung und die fast gleichzeitige Beantwortung. „Manchmal findet man die Lösung einer Aufgabe wie man eine Nuss knackt.“ (Ed McBain, The Mugger)
Der Dachs lässt sich schlecht definieren. Es ist einfacher zu sagen, was er alles nicht ist, als zu erklären, was er ist.
Auch wenn man ihm häufig die Form eines Objekts (beispielsweise eines kleinen Buches) verleiht, ist der Dachs kein Objekt.
Ein Dachs vollzieht sich zwischen ,Ich‘ und ,Du‘. Er entzieht sich der Kontrolle des ,Er‘.
Dachsen ist Schwarzarbeit.
Ein Dachs hat keinen Autor. (Ein Autor ist immer ein ,Er‘).
Meine Dachse sind nicht signiert (manchmal sind sie es); sie sind adressiert.
Ein Dachs ist vertraulich. Anders ausgedrückt, er ist ein Zeichen des Vertrauens.
Die Lebensdauer eines Dachses ist zufällig. Er ist wesentlich ephemer. ,Ein Augenblick tiefster Überzeugung‘.
Statt auf der großen Ringstraße hält sich der Dachs im Souterrain auf.
Der Dachs ist dem Affekt sehr nahe. Er ist eine Fabrik zur Verarbeitung von Affekten. Ich habe mehrfach betont, wie viele Schwierigkeiten es bereitet, Affekte und eine Passage vom Affekt zum Konzept zu betrachten, ohne dabei Affekt und Anekdote in Beziehung zu setzen. (Ich habe auch gesagt, dass ich ein Konzept als eine Anekdote des Denkens betrachte.)
Der Dachs, für sich genommen, ist ebenfalls eine Anekdote. Ein kleines, friedliches und fröhliches Laboratorium, wo ich in aller Ruhe einen Affekt einfangen und beobachten (und dir zum Beobachten geben) kann.“ (*)

Die unerwartete Einsicht in den Doppelcharakter des Frechen, das ebenso gut Verachtenswertes (gierig, rücksichtslos) wie Liebenswertes (wild, tollkühn, ohne Scheu) bedeuten konnte, und das doppeldeutige Wesen des Dachses als einer bedrohten Tierart und einer poetischen Vollzugsform hatten mich beflügelt. Ich wollte die Aufschrift fotografieren und machte mich wieder auf den Weg. Die Überwachungskameras haben mich als einen Einzelnen registriert, aber in Wahrheit befand sich Emmanuel Hocquard an meiner Seite; vor, zwischen und hinter uns wuselte flinkes Dachsgetier. Der Schriftzug war freilich verschwunden, die rechteckigen Kunststoffplatten glänzten in frechem Weiß. Was soll‘s, beruhigte ich mich, die von den Wiener Verkehrsbetrieben engagierten Reinigungsfirmen stehen unter Erfolgsdruck und das Verschwinden derartiger Straßenkunst-Objekte gehört zum Spiel.

Was genau war es, das mir in dieser Nacht von Freitag auf Samstag zuteil wurde? Ein Epiphanie-Erlebnis? Das wäre zuviel gesagt. Ein Mysterium? Wenn ja, dann nur im Sinne einer Bestätigung der berühmten Mutmaßung von Joseph Beuys: „Die Mysterien finden auf den Bahnhöfen statt.“ Es war ein Funkenflug, nicht mehr und nicht weniger. Ein Funkenflug, der u.a. eine Handvoll junger Graffitimaler, einen Dichter, einen zu Unrecht ignorierten tierischen Nachbarn und vereinzelte U-Bahn-Passagiere kurzfristig zu einem Stromkreis zusammengeschalten hat. Es war ein Dachs. Eben der Frechdachs, der für eine ganz kurze Zeitspanne an die Macht gelangt war.

*
Fundstellen:
Emmanuel Hocquard : Gazette de la villa Harris n° 15, in: cipM (éd.), ‘‘‘Le Cahier du Refuge‘‘‘ n° 203, juillet 2011; centre international de la poésie Marseille.
Emmanuel Hocquard : ma haie, Un privé à Tanger II, Paris 2001, P.O.L..
(* Übersetzung der Hocquard-Passage: Bernhard Kellner)
grasfüße - 16. Mär, 08:07

ad Klossowski: Allein das Daumenorakel lohnt, die "Fundstellen" aufzusuchen! Sätze, die wie Schlüssel funktionieren: der von Klossowski diesmal als Orakel, das über jedem User-Portal stehen sollte, ich denke an die Netz- genauso wie Lebens-User.

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In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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