Donnerstag, 27. Oktober 2011

FRAGEZEICHEN

Drei neue Bücher über die Liebe (1)

„Die Philosophie spricht heute nicht mehr über die Liebe, oder nur selten. (…) Die Philosophen haben sie faktisch aufgegeben, sie ihres Begriffs entledigt und sie schließlich an die dunklen und beunruhigenden Ränder ihrer zureichenden Vernunft verwiesen – zusammen mit dem Verdrängten, dem Ungesagten und dem, was man sich nicht eingestehen will.“ (Jean-Luc Marion)

Die letzten großen philosophischen Bücher über die Liebe, soweit ich es überblicken kann, waren Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe (1977/1984), Les vertus et l'amour von Vladimir Jankélévitch (1986), und Julia Kristevas Geschichten von der Liebe (Histoires d'amour; 1983/89).

Wie kommt es, fragt Marion, dass ausgerechnet die Philosophie, die die Liebe in ihrem Namen trägt, über mehrere Jahrzehnte nichts dazu zu sagen wusste? Er zog mehrere Möglichkeiten in Erwägung: Die erste wäre, dass gerade Philosophen sie nicht mehr erfahren und deshalb außerstande sind, sie zu benennen. Die zweite und dritte gehen von einer gewissen Furcht und tiefen Unlust aus, dieses „meist prostituierte Wort“ im philosophischen Vokabular zu belassen.

Also war die Liebe der Inflationierung hoffnungslos preisgegeben; sofern sie nicht von ideologischen oder religiösen Zusammenhängen einvernahmt wurde, landete sie auf der massenmedialen Müllkippe. In TV-Talkshows und dem allgegenwärtigen Psychogeschnatter braucht sie nicht weiter hinterfragt zu werden. Dort wusste man seit jeher, was Liebe war und was nicht, man kannte sie in- und auswendig, und es ging nur noch um Tipps, wie sie optimiert oder ihr Ertrag vervielfacht werden könnte.

Inzwischen scheint sich das geändert zu haben, Marions Befund hat seine Gültigkeit verloren. In den Buchhandlungen findet man wieder von Philosophen verfasste Bücher über die Liebe. Dabei fällt auf, dass sie erstens aus Frankreich kommen, und, zweitens, in Format und Ausstattung den auflagenstarken Weckrufen zu mehr zivilgesellschaftlichem Engagement, wie z.B. Stéphane Hessels Empört Euch!, ähneln. Führt die kommende Rebellion etwa die Liebe im Schilde?

Jean-Luc Marion, ein prominenter Vertreter der neuen Phänomenologie aus Frankreich, publizierte vor einiger Zeit sechs „Meditationen“ zum Phänomen des Erotischen (Le phénomène erotique, 2003/11), die, auch wenn sie die Liebe nicht explizit im Titel tragen, nichts anderes im Sinn haben. Alain Badiou brachte in Anlehnung an Jean-Luc Godards gleichnamigen Film sein Lob der Liebe (Eloge de l‘amour, 2009/11) heraus und Jean-Luc Nancy veröffentlichte seinen Vortrag über Die Liebe, übermorgen (L‘amour, après-demain, 2008/11).

Die den Publikationen zugrunde liegenden Herangehensweisen könnten verschiedener nicht sein. Jean-Luc Marions Produktionsgeste ist monologisch und still: Ein Mann (allein) denkt lebenslang über Gabe und Liebe nach und veröffentlicht Teilergebnisse. Nancy dagegen spricht seinen Monolog laut und vor Publikum: Ein Mann (allein) hält einen Vortrag und lässt ihn transkribieren. Badiou findet schließlich zum Dialog: zwei Männer, Badiou selbst und Nicolas Truong, begeben sich auf eine Bühne und diskutieren, was Liebe unter den Bedingungen gegenwärtiger Ratlosigkeit noch ist oder sein könnte.

Die Liebe denken. Was ist darin impliziert? In einem ersten Schritt geht es um Bestandsaufnahmen dessen, was wir gegenwärtig unter Liebe verstehen. Im zweiten Schritt geschieht etwas wie Raumbereinigung: das Wort ,Liebe‘ muss freigelegt, d.h. von allen kitschigen oder ideologischen Konnotationen, allen Vorurteilen oder voreiligen Gewissheiten gereinigt werden. (Insofern dürfte dazu die phänomenologische Methode, die unmittelbar „zu den Sachen“ drängt und keine „Abbiegungen“ vom reinen Hineinschauen in das [vor] den Sinnen erscheinende Objekt duldet, gut geeignet sein.)

Erst im folgenden dritten Spielzug wird sich herausstellen, inwiefern diesen drei Büchern tatsächlich Werkzeugcharakter zukommt, ob es ihnen gelingt, den seit zig Jahrhunderten sich vollziehenden Metamorphosen der Liebe eine neue Facette abzugewinnen.

Die Fundstellen wollen die neuen Liebes-Bücher befragen, in loser Reihenfolge, beginnend mit dem neuesten. Sofern in diesem Herbst noch weitere Titel zu demselben Thema erscheinen, was zu erwarten ist, werden auch sie in die hier beginnende Blog-Meditation eingebunden…

Die Liebe muss neu erfunden werden, das weiß man. (Arthur Rimbaud)

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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