Montag, 24. Januar 2011

EINSCHNITTE

vertikal / horizontalNotiz zur Mystischen Fabel

„Die ganze Dante‘sche Welt erstreckt sich entlang der Vertikalen, vom Untersten, dem Teufelsschlund, bis zu den Höhen des Aufenthaltes Gottes und der Seligen. Die einzig wesentliche Bewegung, die die Lage und das Schicksal der Seligen ändert, ist die nach oben oder nach unten entlang der Vertikalen. Nur auf dieser Vertikale gibt es für Dante wirkliche Vielfalt; Unterschiede zwischen Dingen, die sich auf einer Ebene befinden, sind nicht wesentlich. Dies ist der charakteristische Zug mittelalterlicher Weltanschauung.“ (Michail Bachtin)

„Es ist diese Vertikalität, die Dantes Commedia mit dem Geist der gotischen Kathedralen korrespondieren lässt. Aber es ist unübersehbar, dass diese auf scholastischen Voraussetzungen beruhende, vom Kleinsten bis zum Umfassendsten geordnete, vom göttlichen Geist durchwaltete Welt bei Dante in eine Krise tritt, die ihren spezifischen Ort an der Schwelle zum 14. Jahrhundert, dem ersten Jahrhundert der sich ahnenden Neuzeit hat.“ (Karlheinz Stierle)

Das alte Weltbild zerfällt, leuchtendere und einleuchtendere Weltbilder drängen an die Oberfläche. Ein „neues Lebendiges“ tritt in die Geschichte: „der Staat als berechnete, bewusste Schöpfung, als Kunstwerk“ (Jacob Burckhardt). Von da an drängt alles in horizontale Ausbreitung. Die statische, überirdisch-paradiesische Voraussetzung wird von dynamischen, neugierigen, ganz und gar irdischen Voraussetzungen abgelöst.

Der Dante‘sche Dichtertypus wird durch Dichter-Persönlichkeiten wie Francesco Petrarca verdrängt. Für den Bau gigantischer, kathedralenhafter Werke wie der Commedia fehlte ihm bereits die Zeit: „In Petrarcas gewaltigem Œuvre gibt es kein einziges, das ein abgeschlossenes und vollendetes Ganzes geworden wäre. Seine Werke sind Summen, Konfigurationen aus dem Augenblick entsprungener, aber immer wieder überarbeiteter Einzeltexte.“ (Karlheinz Stierle)

Damit schlug zugleich die Stunde für die mystische Intervention. Die frühneuzeitlichen Mystiker und Mystikerinnen waren Fleisch gewordene Seismographen dieser krisenhaften Wandlungsprozesse. Angesichts der universellen Relativierung des Göttlichen insistierten sie auf das Absolute (Nicht-Lösbare), Ganzheitliche, Nicht-Fragmentierte. Sie machten den eigenen Körper zum Instrument, aus dem die Stimme Gottes (oder was sie dafür hielten) hörbar und spürbar werden sollte. Ihr Ziel war die ekstatische Vereinigung mit dem Einen-Einzigen. Die unio mystica verlangte das Unmittelbare, Ereignishafte, Augenblickliche, in dem Vergangenheit und Zukunft sich in „reine“ Gegenwart auflösten und etwas wie Wahrheit sich blitzartig zu erkennen gab.

Die Dichter, die nicht ihre Körper, sondern die Sprache zum Instrument allfälliger Wahrheit machen, begegneten der Mystik selten als einer Fremden. Unmittelbarkeit, Ereignis, Augenblick oder vertikale Einschnitte, in welchen sich „reine“ Präsenz zu erkennen gibt, sind ihnen seit jeher gut bekannt. Es gibt einen Ort – womöglich ist es ein Nicht-Ort – an dem das mystische und das poetische Interesse einander berühren: im „poetischen Augenblick“, dem Schauplatz des innersprachlichen Ereignisses, das den Leser wie ein Meteoriteneinschlag trifft und aus dem linearen Lesefluss kippen lässt:

„In jedem wahren Gedicht kann man also die Elemente einer angehaltenen Zeit finden, einer Zeit, die nicht dem Regelmaß folgt, einer Zeit, die uns vertikal anruft, um sich von der allgemeinen Zeit zu unterscheiden, die mit dem strömenden Wasser des Flusses und dem vorbeistreifenden Wind horizontal verläuft (…) Während die Zeit der Prosodie eine horizontale ist, ist jene der Poesie eine vertikale. (…) Das Ziel ist die Vertikalität, die Tiefe oder die Höhe; der stabilisierte Augenblick, in dem die Simultaneitäten, indem sie sich ordnen, die metaphysische Perspektive des poetischen Augenblicks unter Beweis stellen. (…) Im poetischen Augenblick steigt das Sein auf oder es fällt, ohne die Zeit der Welt anzunehmen, die Ambivalenz auf die Antithese und Simultaneität auf Sukzession reduziert hat.“ (Gaston Bachelard)

fundstellen_tandori_stafette_5

Abb.: Deszö Tandori, Stafette. Prosa und Dichtungen, hrsg. von Julianne Deréky, aus dem Ungarischen übersetzt von Christine Rácz, Klagenfurt-Salzburg 1994, Wieser Verlag (S.56)

Shhhhh - 27. Jan, 18:40

Ich habe mir die Göttliche Komödie vor langer Zeit zu Gemüte geführt, habe eine Theateraufführung dazu gesehen und muss wohl noch einmal von vorn anfangen. Schönen Dank für ein paar richtige Fragen.

Fundsteller - 30. Jan, 17:18

Als kundigen Führer für den Abstieg in Dantes Jahrtausendwerk würde ich Ossip Mandelstam vorschlagen. Er hat speziell für die Commedia Italienisch gelernt und 1933, knapp vor dem von den Stalinisten aufgezwungenen Exil, den Essay Gespräch über Dante geschrieben. Dort heißt es u.a.:

„Die Lektüre Dantes ist vor allem eine nie endende Arbeit, die uns, je mehr wir fortschreiten, um so weiter vom Ziel entfernt. Bringt eine erste Lektüre nur Atemnot und eine gesunde Müdigkeit, so besorge man sich für die folgenden ein Paar unverwüstliche Schweizer Nagelschuhe. Ich frage mich allen Ernstes, wieviel Sohlen, wieviel Rindsleder, wieviele Sandalen Alighieri während seiner dichterischen Arbeit auf den Ziegenpfaden Italiens durchgelaufen hat. (…) Bei Dante sind Philosophie und Poesie immer im Gehen begriffen, immer auf den Beinen. Selbst das Innehalten ist eine Spielart konzentrierter Bewegung…“

(Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante, Gesammelte Essays II 1925-1935; aus dem Russischen übertragen von Ralph Dutli, Zürich 1991, Ammann).

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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Zuletzt aktualisiert: 22. Jun, 00:49

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