Montag, 24. Februar 2014

ZWISCHENRÄUME

Yoko Tawadas Einführung in die Kunst der Leerstelle

TAWADA_Ich-liebe-dich

Yoko Tawada lesen oder hören bedeutet vor allem eines: sich mit einer besonderen Wahrnehmungsdisposition vertraut machen – mit dem Sehen, Sprechen, Agieren aus dem Zwischenraum.

Yoko Tawada ist Japanerin und Deutsche, zugleich ist sie beides nicht, nicht mehr oder noch nicht, sondern etwas Drittes, das sich aus den jeweiligen Mischverhältnissen augenblicklich ergibt. Genau genommen handelt es sich weniger um ein Sein als um unentwegtes Werden. Seit sie 1982, nach ihrem Literaturstudium, aus Tokyo nach Hamburg kam, wird sie jeden Tag aufs Neue Japanerin und/oder Deutsche, Asiatin und/oder Europäerin.

„Ich kann nicht davon ausgehen, dass mein Bewusstsein abgegrenzt ist von allem anderen. Ich weiß oft nicht, ob ich denke oder ob mein Bleistift denkt. Was ein Hund denkt, der vor mir sitzt, überträgt sich auf meine Gedanken und ich kann nicht mehr sagen, ob das sein Denken ist oder meines.“ (Im Meer der Mehrsprachigkeit, NZZ vom 24.12.12)

Befremden, Selbstbefremdung, befremdeter Raum… – Die Europa-Erfahrung Yoko Tawadas erinnert an den Ausnahmezustand, den Roland Barthes in seinem Buch Im Reich der Zeichen über seine Japan-Erfahrung geschildert hat: die rauschende Masse einer unbekannten Sprache als „delikate Abschirmung“; das unentwegte Nicht-Verstehen, Falsch-Verstehen, Neu-Verstehen als Taumel oder künstliche Leere, die nur für ihn selbst existiert: „Ich lebe in einem Zwischenraum, der frei von jeder vollen Bedeutung ist.“

Tawada: „Keine Tradition zu haben, klingt in Europa negativ oder unglaubwürdig, da ,die Tradition und die Moderne‘ dort zu einem der wichtigsten Denkschemen geworden ist. Dabei wird das Wort ,Moderne‘ oft als Synonym für die westliche Moderne verwendet. Die meisten Fernsehsendungen und Zeitungsartikel behaupten in ihren Beiträgen nichts anderes als den ,Verlust der Tradition durch die Verwestlichung‘. Es spielt keine Rolle, ob es um Nepal, Papua-Neuguinea, Kenia oder Japan geht. Das Motiv der Tradition – oder genauer gesagt ihr Verlust – beschäftigt Europa so sehr, dass man nichts anderes mehr tut, als die außereuropäische Welt zu bemitleiden, weil dort die Tradition verloren gegangen sein soll. Auch ich habe mittlerweile Mitleid mit mir, weil auch meine Tradition verloren gegangen sein muss, die aber eventuell von Anfang an gar nicht existierte. (Über die Zeit 5, Vergänglichkeit, erschienen 2004 in der Zeitschrift Werk, Bauen + Wohnen)

Frei von jeder „vollen“ Bedeutung – Was tritt bei Tawada an die Stelle der Tradition? Eine besondere Art der Gewärtigkeit. Wo die gewohnten Konventionen und Regelwerke aussetzen, ist man gezwungen, die eigenen Aufmerksamkeiten neu zu erproben. Eingefahrene Blickmuster werden unwillkürlich hinterfragt und durchbrochen. Anstelle schwer wiegender Überzeugungen, die den Blick auf das unmittelbare Geschehen verstellen, treten hier kleine, mit schnellem Strich skizzierte Versuchsanordnungen.

Mehr als vierzig Bücher hat Yoko Tawada bisher in Europa und in Japan veröffentlicht. Im deutschsprachigen Raum erschienen u. a. Das Bad (1989), Ein Gast (1993), Wo Europa anfängt (1991), Überseezungen (2002), Das nackte Auge (2004), Der Schwager aus Bordeaux (2004) und zuletzt Abenteuer der deutschen Grammatik (2010); in diesen Tagen erscheint beim Hamburger Konkursbuch Verlag ihr jüngstes Buch Etüden im Schnee.

Aus den Hohlräumen, die zwischen Prosa, Lyrik und Essay klaffen, generiert Tawada federleichte Sätze und überraschende poetische Formationen, die sich gut für U-Bahn-Fahrten und die gelegentlichen Betriebsstörungen, auf die man dabei gefasst sein muss, eignen.

Die spezielle Weisheit hinter Tawadas poetischen Interventionen ist das ,ma‘. Das japanische Wort für ,Raum‘ bezeichnet auch den negative space, die Leerstellen, Intervalle, die den Informationsfluss zwischen Dingen und Personen unterbrechen. Es zielt auf ein Bewusstsein des Raums als Zusammenspiel der Formen und des Formlosen.

Tawada: „,Mu‘ heißt Nichts, ,mi‘ die Frucht oder der Körper, ,me‘ die Augen. Die Zeit, die man weder messen noch füllen kann, ist ein ,ma‘. ,Ma‘ kann auch Magie oder ein gefährlicher Geist bedeuten. Und gerade dieses Moment, das aus jeder Zeitordnung herausfällt, kann die interessanteste Zeit für die Poesie sein.“ (Über die Zeit 7, Zwischenräume)

*

Die Dichtkunst unterliegt keinem Effizienz-Imperativ. Sie evaluieren zu wollen, hieße ihre wesentlichste Qualität missverstehen. Yoko Tawada wird weiterhin auf ihre unverwechselbare Art agieren und Bücher schreiben, ihre Intention kann es nicht sein, der poetischen Äußerung einen gesellschaftlichen Nutzen abzuringen.

Angesichts der gegenwärtigen geopolitischem Zuspitzungen erscheint es aber gar nicht mehr so absurd, auf das implizit Politische dieser Wahrnehmungsdisposition aus dem Zwischenraum zu verweisen.

Der Zwischenraum ist ein Wissen. Er ist beides: geschärfte Aufmerksamkeit für die „Zwischenwelt“, in der die Blicke sich kreuzen und die Wahrnehmungen sich überschneiden, und ein hoch entwickelter Sinn für die alles umgebende Leere, für das weiße Blatt, auf dem sich die Begegnungen abspielen. Der Zwischenraum ist, wenn man so will, eine Kulturtechnik.

Tawadas mit 'ma' vertrauter Blick ist immer schon mehrdimensional. Müßte man ihm eine Körperhaltung zuordnen, wäre es vielleicht die einer Katze, die den Bewegungsablauf auf Tieflage umstellt, nicht um zu jagen, sondern um die Gefahr besser einschätzen zu können und sprungbereit zu sein.

Die besondere Dynamik dieses Seh- und Bewegungsverhaltens aus dem Zwischenraum wird in dem oben abgebildeten Satz aus dem Abenteuer der deutschen Grammatik spürbar:

Ein zentraler deutscher Satz wird ins Japanische übersetzt und von dort in Spiegelübersetzung in die Herkunftssprache zurückgerufen: "Was mich betrifft, bist du begehrenswürdig." – hier der äußerste Rückbezug ("was mich betrifft"), dort die unmissverständliche Bezugnahme ("du bist"); dazwischen öffnet sich ein weites Feld, in dem viel Begehren und Würde Platz finden…

*

Am 3. März um 19.00 Uhr ist Yoko Tawada bei Steinbrener/Dempf zu Gast. Die Lesung findet im Rahmen des Eröffnungsfests zu Manuela Marks Ausstellung „möglicherweise hier“ statt, die bis 20. März – von der Straßenseite her – zu sehen sein wird. (Kuratorin: section/a, Katharina Boesch): Steinbrener/Dempf, Glockengasse 6, 1020 Wien


*) Abbildung: Yoko Tawada, aus „Abenteuer der deutschen Grammatik“, © konkursbuch Verlag Claudia Gehrke

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

filmbilder_leser

DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

ZEITFENSTER

Februar 2014
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
25
26
27
28
 
 
 

SUCHHILFE

 

GEGEBENHEIT

Online seit 4852 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 22. Jun, 00:49

ABSPANN


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren