Donnerstag, 22. Januar 2015

SONDERFÄLLE

Caligaris. Nicole Caligaris, geboren 1959 in Nizza, Schriftstellerin, als solche schwer einzuordnen, poetisch hochgradig unberechenbar, eine Sondererscheinung innerhalb der französischen Gegenwartsliteratur. Leider wurde bislang keines ihrer Bücher ins Deutsche übersetzt, aber ich gehe davon aus, dass sich das bald ändern wird. Vier Caligaris-Bände liegen neben mir am Schreibtisch, ein fünfter befindet sich am Postweg.

Zwei davon möchte ich näher vorstellen: Der erste heißt Les chaussures, le drapeau et les putainsDie Schuhe, die Flagge und die Huren. Der kleine, kaum siebzig Seiten lange Essay erschien 2003. Zwölf Jahre danach entfaltet er erstaunliche Aktualität. Es ist ein einprägsames Buch zum Thema Arbeit. Der zweite, Le Paradis entre les jambesDas Paradies zwischen den Beinen, erschienen 2013, ist eine denkbar beunruhigende autobiographische Abhandlung zum Thema Kannibalismus.

Dazwischen publizierte Caligaris mehrere Romane. Einer von ihnen trägt den Titel Okosténie (2008). Das Wort geht auf den serbischen Schriftsteller Miroslav Popovic (1926-1985) zurück, der im ehemaligen Jugoslawien Marschall Titos Säuberungsaktionen zum Opfer gefallen und mehrere Jahre in Gefängnissen interniert war. Okosténie bezeichnet den lethargischen Zustand, in den das Folteropfer während der Tortur verfällt.

Arbeit - Folter - Kannibalismus. Möglicherweise eignen sich diese drei Worte bereits als erste Charakterisierung von Caligaris Werk, vorausgesetzt man denkt dabei nicht an ein den Gesetzen des Buchmarkts geschuldetes Kalkül – cruelty sells – oder an trivialen Voyeurismus. Caligaris Themen erscheinen groß und gnadenlos, sie zielen auf Sachverhalte, die in unserer Lebenswelt fest verankert und trotzdem schwer zu fassen sind. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Freiheit und Behutsamkeit die Autorin sich durch die Kreise der Hölle bewegt.

Behelfsweise könnte man Caligaris Werke als poetische Phänomenologien betrachten. Entlang ihrer Prosa wird das Alltägliche fragwürdig und das Fremdartige erstaunlich greifbar. Jedes ihrer Bücher scheint einer doppelten Intention zu folgen, einer offensichtlichen, die sich meist schon im Titel zu erkennen gibt, und einer verborgenen, die sich dem Leser erst allmählich erschließt. Das zwischen den Zeilen Gesagte gewinnt seine ganz eigene Konsistenz. Leserin und Leser haben die Wahl, ob sie Caligaris' Prosa lieber an den Oberflächen oder entlang der abgeschatteten Rückseiten folgen möchten.

Mir haben sich ihre Bücher als schaurig-schöne Landschaften ins Gedächtnis eingeprägt. Arbeits-, Folter-, Kannibalismus-Landschaft. In manchen Passagen bedauerte ich, nicht rechtzeitig die Straßenseite gewechselt zu haben, unmittelbar darauf folgten die Momente, in denen ich froh war, es nicht getan zu haben. Es waren Leseereignisse, deren anhaltende Wirkung durch das bloße Weglegen des Buches nicht gestoppt werden konnte.

Ich nenne es den Caligaris-Effekt: Diese Texträume durchstreift man nicht nur einmal, sondern es zieht einen – nicht unähnlich dem Verbrecher, von dem es heißt, er kehre zwangsläufig zum Ort seiner Tat zurück – immer wieder hinein. Es gibt dort etwas, das die Grausamkeit, den Skandal, das absolut Uneingestehbare unserer Epoche nicht nur auf den Punkt, sondern zum Vibrieren, zum Schwingen oder Tanzen bringt. Diesem ominösen Etwas möchte ich ein Stück weit folgen.

*

Die Schuhe, die Flagge und die Huren

Was ist Arbeit? – An abstrakten Definitionen mangelt es nicht. Die Physik definiert sie als Produkt einer Kraft k, die entlang der Wegstrecke s gegen einen vorhandenen Widerstand wirkt. Die Philosophie begriff sie bis ins 19. Jahrhundert hinein als Gegensatz zur Muße - also Mühsal, Plage. Im heutigen Verständnis ist sie der zielgerichtete Einsatz körperlicher und geistiger Kräfte zur Befriedigung von (primären, sekundären, tertiären…) Bedürfnissen.

Was mit Arbeit zu tun hat, ist meist konkret: vom Bewerbungsgespräch über Druckverhältnisse, Erfolgserlebnisse, Gehaltsvorstellungen bis hin zur kollektivvertraglichen Regelung, dem Konkurrenzkampf oder der Kündigung. Zum Thema Arbeit hat jeder Mensch etwas beizutragen, jede Lebenszeit ist eine mehr oder minder geglückte Abfolge von Arbeitserfahrungen.

Caligaris führt die sich über zweieinhalb Jahrtausende spannende Abstraktion und die äußerste Konkretion von Arbeit auf engstem Raum zusammen. Ihre poetische Versuchsanordnung beginnt mit einem Verweis auf Hannah Arendt, in deren Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958) drei Grundtätigkeiten des menschliche Lebens bezeichnet werden: Arbeiten - Herstellen - Handeln.
Arbeit bezeichnet darin den Zwang zur Erhaltung des Lebens, dem der Mensch von seiner Geburt bis zum Tod unterliegt; sofern sie dem Fortbestand der Gattung dient, ist sie nicht ausschließlich dem Menschen vorbehalten - Figur des animal laborans. Herstellen meint die Produktion dauerhafter Dinge, die in der Folge das Erscheinungsbild unserer Welt prägen - Wirkungsmacht des homo faber. Handeln und Sprechen bezeichnen das Vermögen, den Raum zwischen den Menschen fruchtbringend zu bespielen: Interaktion, Kommunikation, Hervorbringung von Öffentlichkeit: „Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart.“ (Hannah Arendt)

In welches Verhältnis diese Grundtätigkeiten zueinander treten, wäre für jede Gesellschaftsform und Epoche eigens zu bestimmen. Der antike griechische Stadtstaat hatte andere Vorstellungen bezüglich Arbeit, Herstellen, Handeln als die christliche dominierte Welt an der Schwelle zur Neuzeit. Was die modernen Industriegesellschaften praktizieren, bedeutet für Arendt den Sieg des animal laborans: „In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in einen Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht.“

In Caligaris‘ Buch werden Arendts Thesen zum Rohmaterial einer Komposition: Variationen über ein Thesenkonglomerat. Die aktuelle Relation von animal laborans, homo faber und der Möglichkeit zur gesellschaftlicher Teilhabe werden zum Klingen und zwischenzeitlich - wie im richtigen Leben - zum Schweigen gebracht.

Die Autorin kennt die vielfältigen Schrecken, die durch Arbeit verursacht werden: den Schrecken derer, die ihr geduldig nachgehen und dabei nicht mehr zum Denken und Atmen kommen; den Schrecken derer, die keine Arbeit haben und die Möglichkeit ihrer Versklavung überhaupt erst suchen und finden müssen; den Schrecken derer, die zwar einer Arbeit nachgehen, beispielsweise jener der Schriftstellerin, sie aber täglich neu legitimieren müssen.

„Mit den letzten Ausdünstungen des Wohlstands sind auch die Sternbilder glücklicher Arbeit verschwunden. Arbeiten heißt leiden, man ist krank – mit oder ohne Arbeit. Die Qual ist unsere Lebensart geworden: die Bedingtheit des modernen Menschen.“ (S.7)

Arbeit: unsere Angst

Zwei Gottheiten assistieren Caligaris bei der Herstellung ihres Klangkörpers. Bezeichnenderweise stammen beide aus Griechenland. Die erste kennt man aus der antiken Mythologie. Es ist Sisyphus, laut Homer „der Schlaueste unter den Männern“, der aber, seit er den Zorn der Götter auf sich gezogen hat, dazu verurteilt ist, einen riesigen Stein auf einen Hügel zu schieben, und zwar bis zu dem Punkt, an dem er ihm entgleitet und wieder hinunterrollt, sodass das grausame Spiel von neuem beginnt; das an Folter gemahnende Bild des animal laborans.

Die zweite Quasi-Gottheit stammt aus Primo Levys Bericht La tregua (1946; Die Atempause), in dem er seine Befreiung aus dem KZ Auschwitz und die darauf folgende Irrfahrt durch das verwundete Europa anno 1945 beschreibt. Eine der einprägsamsten Gestalten aus diesem Bericht ist Mordo Nahum, der Grieche: er ist die Fleisch gewordene instrumentelle Vernunft, Nutzdenken in Reinkultur, das Urbild der wandelnden Ich-Aktie, zu der wir alle mutiert sind; ein Zerrbild des homo faber.

Mordio Nahum, was für ein Name!

Im Gegensatz zu den anderen aus dem KZ Befreiten trägt Mordo blank geputzte Schuhe: „Wer keine Schuhe hat, ist ein Dummkopf.“ Während die anderen nur besitzen, was sie unmittelbar am Leib tragen, schleppt er einen prall gefüllten Sack, d. h. nein, er schleppt ihn nicht selbst, sondern lässt ihn schleppen. Während die ehemaligen Lagerinsassen sich ungläubig fragen, wie es zuging, dass sie dem Wahnsinn entrinnen konnten, bleibt Mordo Nahum kühl. In der Krankenstation des Lagers sucht und findet er brauchbare Dinge, die ihm etwas wie Zukunft garantieren. Es ist immer gut, etwas zum Tauschen bei sich zu haben.

„Die metallische und vollendete Moral Mordo Nahums ist die Moral eines Sprösslings der Katastrophe, eine Moral nach dem vollzogenen Bruch mit Gott. Moral der Stärke: sogar die Idee der Dienstleistung ist dort ein Skandal, verursacht Übelkeit, Erniedrigung. Es ist die Moral von Menschen, die weder Sklaven noch Schutzbefohlene sind, die sich, jeglicher Kontrolle enthoben, in der Stunde der Prüfung allein zurechtfinden. Mordo Nahum: die Verachtung jeder Arbeit ohne Initiative und ohne Risiko. Für alles, woraus er persönlichen Nutzen ziehen kann, gegen alles, was ihn in seiner persönlichen Freiheit einschränkt: das ist Mordo Nahum.“ (S.14)

Dreimal kreuzt er den Weg Primo Levys durch das zerstörte Europa, dreimal erscheint er auch in Caligaris‘ Text. Nach dem Erlebnis mit den blank geputzten Schuhen sieht man ihn eine Fahne schwenken; es ist die griechische, aber darauf kommt es ihm nicht an. Mordo Nahum hat Universelles im Sinn. Es ist die Flagge anders gearteter Expansionsgelüste, das weithin sichtbare Zeichen einer kaufmännisch-kriegerischen Ethik: „Es ist immer Krieg; und die kurz nach dem Krieg geschwungene Flagge kündigt die Machtergreifung einer Gesellschaft an, in der die Arbeit der Ersatz für die Eroberung ist.“ (S.37)

„Mach Profit mit allen Mitteln…“, rezitiert Mordo Nahum sein profanes Glaubensbekenntnis. „Benutze deinen Nächsten für dich selbst. Handle mit allem, was dir in die Hände kommt, Frauen eingeschlossen“. Bei seinem dritten Auftauchen, hat er sich zum erfolgreichen Geschäftsmann gemausert. Sein inmitten des Chaos improvisiertes Bordell floriert. Attraktive Frauen sind in Zeiten des Hungers leicht zu bekommen, die Nachfrage ist nach den Jahren der Entbehrung groß.

Wir sind Sisyphus

„Wir existieren in der Unterwerfung unter die Wirklichkeit in Form von Zeitplänen, täglichen Pflichten, Stillhalteabkommen, Geldsummen, die zu verdienen und auszugeben und zu verdienen sind… unser Leben verläuft in Kreisform, unser Leben nimmt das Gewicht einer Masse auf sich, die wir anschieben. Unsere Erschöpfung…
Unsere Erschöpfung geht soweit, dass uns der Antrieb zum Sprechen fehlt. Wir halten uns in den Innenräumen unserer selbst auf, in der Finsternis eines Raumes ohne Himmel und einer Zeit ohne Tiefe…“ (S.53)

Changierende Perspektiven: Hier Mordo Nahum, der Erfolgreiche, der seine Aufmerksamkeit an kurzer Leine führt und seinen Blick auf ökonomischen Vorteil dressiert hat; dort die im Buchtitel erwähnten Huren, die für Geld ihre Körper für die Herstellung flüchtiger Befriedigungen einsetzen. Zusammengenommen ergeben sie das Bild der conditio humana nach 1945. Wer ist in diesem Arrangement die tragischere Gestalt? Mordo Nahum in seiner spezifischen Blindheit oder Sisyphus bzw. die Prostituierten in ihrer unauflöslichen Ausgeliefertheit?

Die Frage bleibt offen. Nicole Caligaris moralisiert nicht, sie interveniert. Sie vergegenwärtigt den Sachverhalt und setzt ihm eine offene poetische Form entgegen, die sich jeder Kategorisierung entzieht. Ein Essay ist Les chaussures, le drapeau, les putains nur, sofern man die Bezeichnung Essay im Wortsinn als Versuch auffasst. Eher handelt es sich um ein Gedicht in Prosa oder um einen Gesang, womöglich Höllengesang, in dem das Stoßen, Ächzen, Fluchen des Sisyphus in jedem Augenblick spürbar bleibt.

Der Text hat etwas Theatralisches. Man kann ihn sich in bald lauter, bald leiser werdendem Flüsterton gesprochen vorstellen, z. B. aus dem Mund einer Person, die am Weg durch U-Bahn-Labyrinthe, Werkshallen oder Bürotrakte sämtliche Intensitätsgrade von Rage und Resignation durchläuft. Es ist ein Sprechgesang, aus dem die Leser wohl oder übel ihr je eigenes Stoßen-Ächzen-Fluchen heraushören. Leserin und Leser beschränken sich nicht mehr aufs Lesen, unwillkürlich stimmen sie in den Gesang ein…

Aber da ist noch etwas: Caligaris ruft in ihrem Buch eine Reihe von Dichtern in den Zeugenstand, deren Wortspenden den Text bestirnen. Während man im Normalfall ein Übermaß an Zitaten für unlauteren Wettbewerb hält, werden hier die poetischen Stellungnahmen der Dichterkollegen auf eine Weise in den markant rhythmisierten Textfluss eingefügt, dass sie wie Strophen wirken. Neben Homer und Dante kommen Paul Nizon, Victor Segalen, Robert Linhart, Fernando Pessoa, Henry Thomas, Albert Camus, Roger Caillois, Simone Weil, Erri de Luca, C. Wright Mills und André Breton zu Wort.

Daraus ergibt sich etwas wie Öffentlichkeit. Die Textpassagen fungieren als Fensteröffnungen, die den finsteren Innenraum des Sisyphus-Monologs mit einem vielstimmigen Außen in Verbindung bringen. Hier setzt das verloren geglaubte Handeln-Sprechen-Partizipieren wieder ein. Der Antrieb, sich auszutauschen kehrt zurück, wenngleich nur für einen Augenblick:

Es ist der Augenblick des Stillstands, der Totpunkt, bevor der Stein wieder talwärts rollt und Sisyphus neuerlich in die Ebene hinabsteigt. Es ist der kurze Moment, der ihm bleibt, um die Götter, die ihn in die missliche Lage gebracht haben, zu verdammen. Und es ist zugleich der Moment der Literatur, der poetische Augenblick, wenn unvermittelt eine Gegenwelt aufblitzt und Wirkung entfacht. In diese Leerstelle hinein lässt sich die ebenso unpassende wie wirkungsmächtige Frage nach den Grund legenden menschlichen Ambitionen stellen.

Die Literatur hat nur ungehörige Fragen

An dieser Stelle öffnet sich der doppelte Boden von Caligaris' Prosa. Zur Frage Was ist Arbeit? gesellt sich eine zweite: Was kann Literatur? In seiner labyrinthischen Unterkellerung gibt sich das Buch als häretisch-poetologische Abhandlung zu erkennen…

Durch die poetische Optik betrachtet, scheint es, dass Sisyphus und die Huren es doch ein bisschen besser erwischt haben als Mordo Nahum mit seinem charakteristischen Tunnelblick, der zu keiner Frage mehr fähig ist, die über das Rentabilitätskalkül und die Gewinnmaximierung hinausgeht.

*

Als Nicole Caligaris‘ Buch im März 2003 erschien, war von 'Krise' noch wenig zu hören. Die Lehmann Brothers waren erst fünf Jahre später insolvent, die Arbeitslosenzahlen waren vergleichsweise niedrig und die Illusionen intakt; die Textilarbeiterinnen von Bangladesh, die bunten Glamour für europäische Laufstege herstellten, waren noch nicht unter Trümmern begraben.

Zwölf Jahre nach dem Erscheinen von Les chaussures, le drapeau et les putains werden in Griechenland, das in dem Buch so stark präsent ist, millionenfach Gesänge angestimmt, die jenem aus Caligaris‘ Buch stark ähneln.

Bernhard Kellner


* Nicole Caligaris, Les chaussures, le drapeau et les putains, Paris: Éditions Verticales / Le Seuil, 2003.
* Hannah Arendt, Vita activa oder von tätigen Leben, München: Piper Verlag, 1967.
* Primo Levy, Die Atempause, München: Carl Hanser Verlag, 1991.

(La Tregua/The Truce wurde 1997 von Francesco Rosi verfilmt.)

Caligaris_Titel

Dienstag, 18. November 2014

SCHLÜSSELTEXTE (1)

BAUDELAIRE_Schiessplatz_4

Charles Baudelaire, Le Spleen de Paris, XLV Schiessplatz und Friedhof in: C. B., Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, Band 8; herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Darmstadt 1985.

Montag, 24. Februar 2014

ZWISCHENRÄUME

Yoko Tawadas Einführung in die Kunst der Leerstelle

TAWADA_Ich-liebe-dich

Yoko Tawada lesen oder hören bedeutet vor allem eines: sich mit einer besonderen Wahrnehmungsdisposition vertraut machen – mit dem Sehen, Sprechen, Agieren aus dem Zwischenraum.

Yoko Tawada ist Japanerin und Deutsche, zugleich ist sie beides nicht, nicht mehr oder noch nicht, sondern etwas Drittes, das sich aus den jeweiligen Mischverhältnissen augenblicklich ergibt. Genau genommen handelt es sich weniger um ein Sein als um unentwegtes Werden. Seit sie 1982, nach ihrem Literaturstudium, aus Tokyo nach Hamburg kam, wird sie jeden Tag aufs Neue Japanerin und/oder Deutsche, Asiatin und/oder Europäerin.

„Ich kann nicht davon ausgehen, dass mein Bewusstsein abgegrenzt ist von allem anderen. Ich weiß oft nicht, ob ich denke oder ob mein Bleistift denkt. Was ein Hund denkt, der vor mir sitzt, überträgt sich auf meine Gedanken und ich kann nicht mehr sagen, ob das sein Denken ist oder meines.“ (Im Meer der Mehrsprachigkeit, NZZ vom 24.12.12)

Befremden, Selbstbefremdung, befremdeter Raum… – Die Europa-Erfahrung Yoko Tawadas erinnert an den Ausnahmezustand, den Roland Barthes in seinem Buch Im Reich der Zeichen über seine Japan-Erfahrung geschildert hat: die rauschende Masse einer unbekannten Sprache als „delikate Abschirmung“; das unentwegte Nicht-Verstehen, Falsch-Verstehen, Neu-Verstehen als Taumel oder künstliche Leere, die nur für ihn selbst existiert: „Ich lebe in einem Zwischenraum, der frei von jeder vollen Bedeutung ist.“

Tawada: „Keine Tradition zu haben, klingt in Europa negativ oder unglaubwürdig, da ,die Tradition und die Moderne‘ dort zu einem der wichtigsten Denkschemen geworden ist. Dabei wird das Wort ,Moderne‘ oft als Synonym für die westliche Moderne verwendet. Die meisten Fernsehsendungen und Zeitungsartikel behaupten in ihren Beiträgen nichts anderes als den ,Verlust der Tradition durch die Verwestlichung‘. Es spielt keine Rolle, ob es um Nepal, Papua-Neuguinea, Kenia oder Japan geht. Das Motiv der Tradition – oder genauer gesagt ihr Verlust – beschäftigt Europa so sehr, dass man nichts anderes mehr tut, als die außereuropäische Welt zu bemitleiden, weil dort die Tradition verloren gegangen sein soll. Auch ich habe mittlerweile Mitleid mit mir, weil auch meine Tradition verloren gegangen sein muss, die aber eventuell von Anfang an gar nicht existierte. (Über die Zeit 5, Vergänglichkeit, erschienen 2004 in der Zeitschrift Werk, Bauen + Wohnen)

Frei von jeder „vollen“ Bedeutung – Was tritt bei Tawada an die Stelle der Tradition? Eine besondere Art der Gewärtigkeit. Wo die gewohnten Konventionen und Regelwerke aussetzen, ist man gezwungen, die eigenen Aufmerksamkeiten neu zu erproben. Eingefahrene Blickmuster werden unwillkürlich hinterfragt und durchbrochen. Anstelle schwer wiegender Überzeugungen, die den Blick auf das unmittelbare Geschehen verstellen, treten hier kleine, mit schnellem Strich skizzierte Versuchsanordnungen.

Mehr als vierzig Bücher hat Yoko Tawada bisher in Europa und in Japan veröffentlicht. Im deutschsprachigen Raum erschienen u. a. Das Bad (1989), Ein Gast (1993), Wo Europa anfängt (1991), Überseezungen (2002), Das nackte Auge (2004), Der Schwager aus Bordeaux (2004) und zuletzt Abenteuer der deutschen Grammatik (2010); in diesen Tagen erscheint beim Hamburger Konkursbuch Verlag ihr jüngstes Buch Etüden im Schnee.

Aus den Hohlräumen, die zwischen Prosa, Lyrik und Essay klaffen, generiert Tawada federleichte Sätze und überraschende poetische Formationen, die sich gut für U-Bahn-Fahrten und die gelegentlichen Betriebsstörungen, auf die man dabei gefasst sein muss, eignen.

Die spezielle Weisheit hinter Tawadas poetischen Interventionen ist das ,ma‘. Das japanische Wort für ,Raum‘ bezeichnet auch den negative space, die Leerstellen, Intervalle, die den Informationsfluss zwischen Dingen und Personen unterbrechen. Es zielt auf ein Bewusstsein des Raums als Zusammenspiel der Formen und des Formlosen.

Tawada: „,Mu‘ heißt Nichts, ,mi‘ die Frucht oder der Körper, ,me‘ die Augen. Die Zeit, die man weder messen noch füllen kann, ist ein ,ma‘. ,Ma‘ kann auch Magie oder ein gefährlicher Geist bedeuten. Und gerade dieses Moment, das aus jeder Zeitordnung herausfällt, kann die interessanteste Zeit für die Poesie sein.“ (Über die Zeit 7, Zwischenräume)

*

Die Dichtkunst unterliegt keinem Effizienz-Imperativ. Sie evaluieren zu wollen, hieße ihre wesentlichste Qualität missverstehen. Yoko Tawada wird weiterhin auf ihre unverwechselbare Art agieren und Bücher schreiben, ihre Intention kann es nicht sein, der poetischen Äußerung einen gesellschaftlichen Nutzen abzuringen.

Angesichts der gegenwärtigen geopolitischem Zuspitzungen erscheint es aber gar nicht mehr so absurd, auf das implizit Politische dieser Wahrnehmungsdisposition aus dem Zwischenraum zu verweisen.

Der Zwischenraum ist ein Wissen. Er ist beides: geschärfte Aufmerksamkeit für die „Zwischenwelt“, in der die Blicke sich kreuzen und die Wahrnehmungen sich überschneiden, und ein hoch entwickelter Sinn für die alles umgebende Leere, für das weiße Blatt, auf dem sich die Begegnungen abspielen. Der Zwischenraum ist, wenn man so will, eine Kulturtechnik.

Tawadas mit 'ma' vertrauter Blick ist immer schon mehrdimensional. Müßte man ihm eine Körperhaltung zuordnen, wäre es vielleicht die einer Katze, die den Bewegungsablauf auf Tieflage umstellt, nicht um zu jagen, sondern um die Gefahr besser einschätzen zu können und sprungbereit zu sein.

Die besondere Dynamik dieses Seh- und Bewegungsverhaltens aus dem Zwischenraum wird in dem oben abgebildeten Satz aus dem Abenteuer der deutschen Grammatik spürbar:

Ein zentraler deutscher Satz wird ins Japanische übersetzt und von dort in Spiegelübersetzung in die Herkunftssprache zurückgerufen: "Was mich betrifft, bist du begehrenswürdig." – hier der äußerste Rückbezug ("was mich betrifft"), dort die unmissverständliche Bezugnahme ("du bist"); dazwischen öffnet sich ein weites Feld, in dem viel Begehren und Würde Platz finden…

*

Am 3. März um 19.00 Uhr ist Yoko Tawada bei Steinbrener/Dempf zu Gast. Die Lesung findet im Rahmen des Eröffnungsfests zu Manuela Marks Ausstellung „möglicherweise hier“ statt, die bis 20. März – von der Straßenseite her – zu sehen sein wird. (Kuratorin: section/a, Katharina Boesch): Steinbrener/Dempf, Glockengasse 6, 1020 Wien


*) Abbildung: Yoko Tawada, aus „Abenteuer der deutschen Grammatik“, © konkursbuch Verlag Claudia Gehrke

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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Zuletzt aktualisiert: 22. Jun, 00:49

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