FUNDSTELLEN
https://fundstellen.twoday.net/
Fundsteller
Fundsteller
2019-06-21T22:49:15Z
en
hourly
1
2000-01-01T00:00:00Z
FUNDSTELLEN
https://static.twoday.net/fundstellen/images/icon.jpg
https://fundstellen.twoday.net/
-
SPIRITUOSEN, MOCCA ETC.
https://fundstellen.twoday.net/stories/sporituosen-mocca/
<p>
<img width="400" alt="Wien, Urban-Loritz-Platz, Spirituosen-Mocca, 2017 " title="Wien, Urban-Loritz-Platz, Spirituosen-Mocca, 2017 " src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Spirituosen-Mocca_03b.jpg" height="452" />
</p><p>
<font size="-4">Ehemalige Tee- und Likörstube am Urban-Loritz-Platz (2017)</font></p>
Fundsteller
Copyright © 2018 Fundsteller
2018-05-09T22:06:00Z
-
<p>
</p><center>DER LEIDENSCHAFTLICHE LESER</center><br...
https://fundstellen.twoday.net/stories/1022649123/
<p>
</p><center>DER LEIDENSCHAFTLICHE LESER</center><br />
<p>
</p><p>
</p><center>spricht über Charles Baudelaire als Werkzeugmacher und <br />den nüchternen Rausch der Poesie als Überlebensstrategie</center>
<p><br />
Baudelaire hat Geburtstag, den hundertsiebenundneunzigsten, schönes Alter, ein paar Sätze weit will ich ihm gratulieren. Der Dichter hat mich, seit ich ihn das erste Mal gelesen habe, nie mehr ganz losgelassen. Er befand sich im Raum, auch in den heikleren Situationen, und er war dabei, wenn ich tagelang durch die Straßen einer Stadt gestreunt bin um mich nach dem definitiv Unauffindbaren umzusehen. Facebook und Google wissen Bescheid: Ich bin regelmäßiger Baudelaire-Nutzer.
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Modernita-t_small.jpg"><img width="100" alt="Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: C. B., Der Künstler und das moderne Leben, Leipzig: Reclam, 1990, S. 300 (Detail). " title="Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: C. B., Der Künstler und das moderne Leben, Leipzig: Reclam, 1990, S. 300 (Detail). " src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Modernita-t_small_small.jpg" height="55" /></a></center>
<p>
Wie es zum ersten Baudelaire-Lesen gekommen ist? Daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Das initiale Ereignis muss unter den Ablagerungen nachfolgender Leseereignisse begraben worden sein. Ich erinnere mich nur an die grässlichen deutschen Übersetzungen, an diese in ratternde Reimschemata gezurrten Verse, zwangsgoetheisiert, mit einem übergestülpten Pathos versehen, das den Originalfassungen völlig fremd war. Friedhelm Kemp, den großen Übersetzer, kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, mit der französischen Sprache war ich erst am Anfang. Ich musste eine Lesemethode entwickelt haben, die störende Elemente ausfiltern und die Worte in ihren Rohzustand zurücksetzen konnte.
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Widmung_Schluss_small.jpg"><img width="100" alt="Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal, hrsg. und übersetzt von Friedhelm Kemp, München-Wien: Carl Hanser Verlag, 1973; S. 11 (Detail)." title="Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal, hrsg. und übersetzt von Friedhelm Kemp, München-Wien: Carl Hanser Verlag, 1973; S. 11 (Detail)." src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Widmung_Schluss_small_small.jpg" height="81" /></a></center>
<p>
Zur selben Zeit kamen die Aufsätze von Walter Benjamin ins Haus. Darin erschien Baudelaire als Seismograph, der das unter den Oberflächen der großen Städte spürbare Brodeln gewittert, minutiös registriert, aus seiner Formlosigkeit erlöst und intuitiv auf künftige Jahrzehnte, Jahrhunderte hochrechnet hat.<br />
„Baudelaire hat ein Buch geschrieben, das von vornherein wenig Aussicht auf Publikumserfolg gehabt hat. Er rechnete mit einem Lesertyp, wie ihn das [die <i>Fleurs du mal</i>; Anm.] einleitende Gedicht beschreibt. Und es hat sich ergeben, dass das eine weit blickende Berechnung gewesen ist. Der Leser, auf den er eingerichtet war, wurde ihm von der Folgezeit bereitgestellt.“ (Benjamin, 1939)
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Entsprechungen_small.jpg"><img width="99" alt="C. B., Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal, Spleen und Ideal IV, Entsprechungen/Correspondances (1857)" title="C. B., Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal, Spleen und Ideal IV, Entsprechungen/Correspondances (1857)" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Entsprechungen_small_small.jpg" height="100" /></a></center>
<p>
Baudelaire lesen: Ein Mensch in der Masse mit fast monströs geschärftem Blick. Unter tausend beiläufigen Blickkontakten ergeben sich welche, die einen plötzlichen Aufschwung auslösen oder direkt in Richtung Abgrund führen … <i>Chocrezeption</i> – dieses unentwegte Ausbalancieren, Mischen, Neudurchmischen und Weiterverarbeiten prekärer Sinneseindrücke. Die Kellergewölbe des wahrnehmende Subjekts führen direkt in die Kellergewölbe der mehr oder minder zivilisierten Gesellschaft. Manchmal ist von dort aus ein Stück Himmel zu sehen.
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Passante_small.jpg"><img width="100" alt="Baudelaire, Die Blumen des Bösen: An Eine, die Vorüberging (À une passante), aus dem Französischen von Friedhelm Kemp; Münschen-Wien: Carl Hanser Verlag 1975" title="Baudelaire, Die Blumen des Bösen: An Eine, die Vorüberging (À une passante), aus dem Französischen von Friedhelm Kemp; Münschen-Wien: Carl Hanser Verlag 1975" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Passante_small_small.jpg" height="100" /></a></center>
<p>
Jede einzelne Person aus der Masse stellt für sich genommen eine perzeptive Versuchsanordnung dar. Baudelaires Denken und sein vom Alltagsleben durchtränktes Schreiben haben, wie Yves Bonnefoy in seinem Buch <i>Das Jahrhundert Baudelaires</i> (<i>La Siècle de Baudelaire</i>, 2014) gezeigt hat, eine Revolution ausgelöst: enorme Ausweitung, neuartiges Fiebern im Gebrauch der Worte … jede Zeile drängt darauf, das Leben – nicht die Dichtkunst oder die Literatur – zu verändern.
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_A-une-passante-fr_small.jpg"><img width="91" alt="Charles Baudelaire, À une passante, Tableaux Parisiens (1860) in: C. B., Les Fleurs du mal/Die Blumen des Bösen, Vollständige zweisprachige Ausgabe, hrsg. von Friedhelm Kemp, München-Wien: Carl Hanser Verlag, 1973." title="Charles Baudelaire, À une passante, Tableaux Parisiens (1860) in: C. B., Les Fleurs du mal/Die Blumen des Bösen, Vollständige zweisprachige Ausgabe, hrsg. von Friedhelm Kemp, München-Wien: Carl Hanser Verlag, 1973." src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_A-une-passante-fr_small_small.jpg" height="100" /></a></center>
<p>
Inzwischen blicken wir unter digitalen Bedingungen und durch neurowissenschaftliche Optiken auf solche zugleich individuellen und kollektiven Bebenwellen. Unsere Messungen tragen wir in Blogs oder die Schreibvorlagen sozialer Medien ein. Eines ist seit Baudelaire gleich geblieben: Aus dem Inneren der Erschütterung werden Sprache und Rhythmus generiert. Aus den Hohlräumen zwischen den dicht gedrängten Leibern am Bahnsteig dringen die Ausdünstungen, Gerüche, Geräusche des reizbaren Gesellschaftstiers. Im urbanen Durcheinander werden in jeder Sekunde unermessliche Potenziale von Aussagekräften freigesetzt. Man kann diese Erfahrungsschicht ignorieren oder als poetische, soziale Produktivkraft nutzen. Baudelaire hat es getan. Er musste vieles zugleich sein, um die seiner Epoche entsprechenden bildgebenden Verfahren hervorzubringen: Wahrnehmungs- und Stadtforscher, Kunstkenner und Kritiker, Zeichner und Musiker, Arzt und Patient, irrwitzig Liebender und haltlos Hassender, Abenteurer und Stubenhocker, alles in einem.
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_literarische-Arbeit_small.jpg"><img width="100" alt="Charles Baudelaire, Intime Tagebücher, Raketen 11, Eigenschaften der literarischen Arbeit, in: C. B., Der Künstler und das moderne Leben, S. 325, Leipzig: Reclam Verlag 1990. " title="Charles Baudelaire, Intime Tagebücher, Raketen 11, Eigenschaften der literarischen Arbeit, in: C. B., Der Künstler und das moderne Leben, S. 325, Leipzig: Reclam Verlag 1990. " src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_literarische-Arbeit_small_small.jpg" height="83" /></a></center>
<p>
Mit den Jahren gesellten sich Marcel Proust, Paul Valéry, Gaston Bachelard, André Breton, Pierre Emmanuel, Henri Meschonnic, <a href="http://poezibao.typepad.com/flotoir/" Target="_blank">Florence Trocmé</a> und gefühlte hundert weitere Namen dazu. Alles Leute, die auf je eigene Weise durch das Baudelaire'sche Werk hindurch agiert und produziert haben – <i>das Netz</i> oder der <i></i><a href="https://www.youtube.com/watch?v=7yabeJdv6eQ" Target="_blank">Vicious Circle</a>. Dazu gehören auch Brigitte Fontaine, der kürzlich verstorbene Musiker <a href="http://www.jacqueshigelin.fr/" Target="_blank">Higelin</a> oder Gerhard Fischer, später Mitbegründer der Gruppe <a href="http://www.vivaldi-daedalus.eu/daedalus.html">Daedalus</a>, der im September 1980 eine aufgelassene Wiener Bäckerei mit einer im besten Sinn befremdlichen Baudelaire-Installation bespielt hat. Sie alle berufen sich auf den simplen verbindenden Akt: eines seiner Bücher zur Hand nehmen, egal welches, schauen, ob der Funke überspringt und, wenn ja, an welcher Stelle, wie genau und wohin…
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Raketen-1_Hygiene_small.jpg"><img width="100" alt="C. B., 'Mein entblößtes Herz. Tagbücher', Raketen, 16. Blatt (Detail); aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Frankfurt am Main: Insel, 1966." title="C. B., 'Mein entblößtes Herz. Tagbücher', Raketen, 16. Blatt (Detail); aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Frankfurt am Main: Insel, 1966." src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Raketen-1_Hygiene_small_small.jpg" height="43" /></a></center>
<p>
Die Auswahl ist groß. Zur Verfügung stehen nicht nur die <i>Fleurs du mal</i>, deren 'Böses', wie Georges Bataille in <i>Die Literatur und das Böse </i>mutmaßt, bereits in der Schreib-Disposition und Selbstermächtigung des Autors begründet ist, auch der <i>Spleen von Paris</i> (hier beispielsweise <i>Das zweifache Zimmer</i> oder <i></i><a href="http://fundstellen.twoday.net/stories/schluesseltexte/" Target="_blank">Schießplatz und Friedhof</a>), die Tagebücher (<i>Journaux Intimes</i>) und Briefe, das <i>Strandgut </i>(<i>Les Épaves</i>), die kleinen Prosa-Fragmente oder längeren Erzählungen, <i>Fanfarlo</i>, die Essays zur zeitgenössischen Kunst, die Poe-Übersetzungen oder auch, warum nicht, <i>Die künstlichen Paradiese</i>.
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Lebensfu-hrung_small.jpg"><img width="100" alt="C. B., 'Mein entblößtes Herz. Tagbücher', Raketen, 17. Blatt (Detail); aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Frankfurt am Main: Insel, 1966." title="C. B., 'Mein entblößtes Herz. Tagbücher', Raketen, 17. Blatt (Detail); aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Frankfurt am Main: Insel, 1966." src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Lebensfu-hrung_small_small.jpg" height="56" /></a></center>
<p>
Übrigens kommen die darin erwähnten psychotropen Substanzen bei Baudelaire nicht sonderlich gut weg. Er durchlief die Laster – mit Haut und Haaren – und schüttelte sie überdrüssig ab. Um seiner Spur bis zum Letzten folgen zu können, musste er in jedem Moment sein schonungslosester Kritiker bleiben. Daher das Paradox: Der Baudelaire‘sche Rausch ist ein nüchterner Rausch. Rauschmittel würden diese fragile Übereinkunft von Konzentration und Zerstreuung, Aufschwung und Absturz nur stören. Er ist Teil einer Überlebensstrategie.
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Berauscht-euch_small.jpg"><img width="92" alt="Charles Baudelaire, Berauscht euch!, in: Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa, in: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe isn acht Bänden, hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, Bd.8, S.251; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985." title="Charles Baudelaire, Berauscht euch!, in: Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa, in: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe isn acht Bänden, hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, Bd.8, S.251; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985." src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Berauscht-euch_small_small.jpg" height="100" /></a></center>
<p>
Wenige Jahre vor seinem Tod arbeitete Baudelaire an einem Vorwort für die dritte Auflage der <i>Fleurs du mal</i> – "in dem ich meine Tricks und meine Methode erklären und jeden <i>die Kunst</i> lehren werde, <i>ein Gleiches zustande zu bringen</i>" (Brief an Michel Lévy, 1862). Der "Sänger der wilden Lüste des Weines und des Opiums", sehnte sich vor allem nach Ruhe und nach einer <i>Nacht ohne Ende</i>:
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Entwurf-zu-einem-Vorwort_small.jpg"><img width="100" alt="C. B., Entwurf zu einem Vorwort für die 'Fleurs du Mal' (1862), in: C. N., Die Blumen des Bösen. Vollständige zweisprachige Ausgabe, hrsg. von Friedhelm Kemp; München-Wien: Carl Hanser Verlag, 1975." title="C. B., Entwurf zu einem Vorwort für die 'Fleurs du Mal' (1862), in: C. N., Die Blumen des Bösen. Vollständige zweisprachige Ausgabe, hrsg. von Friedhelm Kemp; München-Wien: Carl Hanser Verlag, 1975." src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire_Entwurf-zu-einem-Vorwort_small_small.jpg" height="58" /></a></center>
<p>
Also lass mich das vorletzte Glas auf dich erheben, Baudelaire, du unendlich Getriebener und unwilliger Lehrmeister, auf dich und deine hundertsiebenundneunzig Jahr! Ach, wenn du heute bei uns wärest! Gendermäßig müssten wir dich freilich noch briefen. Lass mich dir einen Satz von Henri Meschonnic zurufen, den ich ohne dich nie kennengelernt hätte. Er hat übrigens eine merkwürdige Studie zum Rhythmus in deinem Herbstgesang, <i>Chant d'automne</i>, verfasst. Der Satz eröffnet den Essay <i>Wie man lernt, nicht zu wissen, was man tut</i> (2008):
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire-Meschonnic_Rhythmus_small.jpg"><img width="100" alt="Henri Meschonnic, Pour la poétique III - Une Parole écriture, p. 328; Paris: Gallimard, 1973." title="Henri Meschonnic, Pour la poétique III - Une Parole écriture, p. 328; Paris: Gallimard, 1973." src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Baudelaire-Meschonnic_Rhythmus_small_small.jpg" height="97" /></a></center>
<p>
„Es ist das Unbekannte, das uns führt, uns dominiert.<br />
Es macht das Denken leidenschaftlich, denn nur durch unser Unbekanntes machen wir uns auf den Weg nach uns selbst. <br />
Dieses Unbekannte in uns selbst und dieses Denken sind in derselben Suche begründet wie das Unbekannte des Subjekts, das Unbekannte des Gedichts, das Unbekannte der Kunst, das Unbekannte der Sprache, das Unbekannte der Ethik, das Unbekannte der Politik.<br />
Das Unbekannte der Gesellschaft…“<br />
</p><p>
</p><p>
</p><p></p>
Fundsteller
Copyright © 2018 Fundsteller
2018-04-09T14:44:00Z
-
TEE- UND LIKÖRSTUBEN
https://fundstellen.twoday.net/stories/tee-und-likoerstuben/
<p>
<img width="400" alt="B_Mocca-Spirituosen_2016" title="" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/B_Mocca-Spirituosen_2016.jpg" height="350" />
</p><p>
<font size="-4">Ehemalige Tee- und Likörstube am Urban-Loritz-Platz (2016)</font></p>
Fundsteller
Copyright © 2018 Fundsteller
2018-04-08T22:18:00Z
-
WORTLISTEN
https://fundstellen.twoday.net/stories/1022648222/
<p>
</p><center>ALPHABET DES ALTERNDEN LESERS</center><br />
<p>
</p><p>
<i>Am Anfang war die Asthma-Attacke</i><br />
</p><p>
</p><p>
</p><p>
<cite></cite></p><center><FONT SIZE="-2">Das Seiende verursacht mir Asthma.</font></center><p>
</p><center><FONT SIZE="-2">(Cioran, <a href="http://www.zeit.de/1970/15/der-untaetigste-mensch-in-paris" Target="_blank">Syllogismen der Bitterkeit</a>, 1952)</FONT></center><br />
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Atemnot Angstzustand</i> <a href="https://www.jstor.org/stable/388378?seq=1#page_scan_tab_contents" Target="_blank">Asphyxie</a>
</p><p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Atemübung</i> – der angenehme Apotheker beim Westbahnhof hatte ihm dazu geraten. Dieser Mann war eine Ausnahmeerscheinung. Wenn es seiner Kundschaft half, handelte er gegen sein Geschäftsinteresse.
</p><p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<cite></cite></p><center><FONT SIZE="-2"><a href="https://www.google.at/search?client=firefox-b&dcr=0&ei=ajbFWprZCIG1sgGv57XYDg&q=attwenger+gedscho&oq=attwenger+ged&gs_l=psy-ab.1.0.0i22i30k1l4.5180.7075.0.9194.6.6.0.0.0.0.150.798.0j6.6.0....0...1c.1.64.psy-ab..0.6.794...0j0i67k1.0.-rHP7wTpWCs" Target="_blank">es ged scho es gedscho wieda es ged scho</a></FONT></center>
<center><FONT SIZE="-2">(Attwenger, Sun, 2002)</FONT></center>
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>amertume</i> – was für ein Wort, eine klangliche Achterbahnfahrt. Es beginnt im tiefen Schwarz des A – "schwarzbehaarte Mieder glanzvoll prächtiger Fliegen, die summend schwärmen…" (Rimbaud) –, holt im schneeweißen E zum Schwung aus und hebt ab zum absinthfarbenen Grün des U/Ü; zuletzt der unbetonte Auslaut – <i>l'amertume de la vie</i><br />
<cite></cite></p><center><FONT SIZE="-2">Die Bitterkeit des Lebens ist das Bedauern, nicht hoffen zu können, die Rhythmen nicht mehr zu hören, die uns dazu anregen, unsere Partie in der Symphonie des Werdens zu spielen.</FONT></center>
<center><FONT SIZE="-2">(Gaston Bachelard, 1932)</FONT></center>
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Ausnahmezustand</i> – seit jeher, überall, man gewöhnt sich – nicht gern
</p><p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Auflistung</i> – was alles und wer aller sich im Ausnahmezustand befand: der Planet Erde; die Kontinente, ein jeder auf seine Art; die Meere oder maritimen Müllhalden; die verschwindende Vogelwelt; der verbleibende amerikanische Präsident; diese digital getakteten und optimal vernetzten Einzelwesen am Rand des Nervenzusammenbruchs; der Nahe Osten; Europa, die Europäische Union… – nicht zuletzt Österreich mitsamt seinen Geheimdiensten.<br />
</p><p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>AMS</i> – auch der österreichische Arbeitsmarktservice war in die Schlagzeilen geraten. Es war ja nicht so, dass es sich dabei um eine Lieblingsinstitution des alternden Lesers gehandelt hätte, aber was da augenblicklich im Gange war, verhieß nichts Gutes: das große Sparen an falscher Stelle – <i>Ausgrenzung, Ausschließung, Aussetzung</i><br />
– im neuen Stil.<br />
</p><p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Amor fati</i> – eine Grundbedingung für das Überleben unter 2018er-Bedingungen. <br />
<cite></cite></p><center><FONT SIZE="-2">Amor fati: das sei von nun an meine Liebe. Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, will nicht einmal die Ankläger anklagen.<br />Wegsehen sei meine einzige Verneinung!<br />Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!</font></center>
<center><FONT SIZE="-2">(Friedrich Nietzsche, 1881)</FONT></center>
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Arturo Benedetti Michelangeli</i> – ohne ihn ging in diesen Tagen und Wochen gar nichts<br />
<cite></cite></p><center><FONT SIZE="-2">Franz Schubert, Klaviersonate in A-Dur, D 959 (1828)</FONT></center>
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3"><a href="https://www.youtube.com/watch?v=Il6-lZYDpqY" Target="_blank">[hier in einer Version Alfred Brendels]</a></FONT></center>
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Ankommen</i> – sich im Sinn einer Als-ob-Konstruktion einen Ankerplatz ausmalen, einen Quasi-Anfang machen, <i>aufbrechen</i>…
</p><p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i></i><a href="http://www.planetlyrik.de/anna-achmatowa-50-gedichte/2011/09/" Target="_blank">Achmatova</a><br />
<cite></cite></p><center><FONT SIZE="-2">Vieles möchte, wenn ich mich nicht täusche,<br />Noch von meinem Mund besungen sein</font></center>
<center><FONT SIZE="-2">(Anna Achmatova, 1942)</FONT></center>
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Ausflug </i> – vielleicht nach Annaberg. Doch lieber nach Athen? <i>Ach was</i>
</p><p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>An die Arbeit. Für Österreich.</i> – Es gab da neuerdings einen Kanzler, dessen Namen sich der alternde Leser nicht merken konnte oder wollte; nachdem es sich um keinen Namen mit A handelte, war es egal. Aalglatt war der und fallweise außerordentlich arrogant, dabei ein farbloses Bürschchen mit schwach entwickelter Stimme; ein Politik-Avatar, gespenstisch ausdrucks- und eigenschaftslos. (<a href="http://www.zeit.de/2017/43/sebastian-kurz-bundeskanzler-oesterreich-charakter" Target="_blank">Macht der Leere</a>, hatte Thomas Stangl dieses Phänomen genannt.) Er liebte es Armutsgefährdeten und Alten, Alleinerzieherinnen mit geringem Einkommen, Arbeit- und Asylsuchenden zu sagen, wo es lang ging.
</p><p>
Der Leser war im Ausgangsbereich eines Amtsgebäudes auf sein Antlitz gestoßen. Es prangte auf einem Plakat mit dem banalen Stakkato:<br /> An die Arbeit - Punkt - Für Österreich - Punkt.
</p><p>
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/An-die-Arbeit.jpg"><img src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/An-die-Arbeit_small.jpg" width="100" alt="An-die-Arbeit" align="center" title="" class="center" height="65" /></a></center>
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Appell</i> – Der Satz auf dem Plakat war zugleich als kanzlerhaftes Bekenntnis und als Aufruf gedacht, er richtete sich <i>an alle</i>. Aber warum speziell für Österreich arbeiten? Warum nicht beispielsweise für Europa – das liefe dann auf keinen Punkt, sondern ein Liniengeflecht hinaus –, oder für die Stadt, in der man sich aufhält, oder für das soziale Gefüge, dem man angehört und das mit autoritären Gesellschaftsentwürfen nichts anfangen kann. Warum nicht für ein Allgemeinwohl arbeiten, das nicht nur gelernten Österreichern oder – unappetitlich ausgedrückt – <i>Autochthonen</i> vorbehalten bleibt?
</p><p>
Der Leser jedenfalls empfand dieses Plakat als symptomatisch für die Epoche und ihre schalen Helden. Es erschien ihm als<br />
</p><p>
<i>Augenauswischerei</i><br />
<cite></cite></p><center><FONT SIZE="-2">anmaßend, anrüchig, aufdringlich</font></center>
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Adjektivdiät!</i>
</p><p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Arbeit</i> – konnte vieles sein, das Höchste, Anregendste oder das Niederschmetterndste. André Breton hatte es vor neunzig Jahren so ausgedrückt:<br />
<cite></cite></p><center><FONT SIZE="-2">Nach alldem soll mir niemand von Arbeit sprechen, ich meine vom moralischen Wert der Arbeit. Ich bin gezwungen den Gedanken der Arbeit als materielle Notwendigkeit anzuerkennen und in diesem Sinne bin ich entschieden für ihre beste, gerechteste Aufteilung. Genug, dass mich die traurigen Verpflichtungen des Lebens dazu zwingen, aber dass man von mir verlangt, daran zu glauben, die meine oder die der anderen zu verehren, niemals! Ich wiederhole es, lieber gehe ich durch die Nacht und halte mich dabei für den, der im Licht geht.<br />Es nützt nichts lebendig zu sein, wenn man arbeiten muss.</font></center>
<center><FONT SIZE="-2">(André Breton, <i>Nadja</i>, 1928)</FONT></center>
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
</p><p>
<i>autoritäre Driften… – in Europa…</i>
</p><p>
</p><p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>Anders denken, leben, es zumindest versuchen</i><br />
<cite></cite></p><center><FONT SIZE="-2">Philosophie wäre demnach die kritische Arbeit des Denkens an sich selber, die auch als <i>Askese</i> bezeichnet wird. Denken und Wahrnehmen ist nicht An-Eignung, sondern ein Denken, das sich in einem permanenten Prozess des Sich-von sich-Lösens vom Fremden und Anderen in Frage stellen lässt. Eine Ethik als Ästhetik der Existenz versteht sich als Analyse und Ausarbeitung neuer Formen des Selbstverhältnisses, als Suche nach Möglichkeiten des Anders-lebens, die einen Ort des Widerstands gegen die individualisierenden und totalisierenden Mechanismen moderner Macht darstellen.</font></center>
<center><FONT SIZE="-2">(Lexikoneintrag, 2004)</FONT></center>
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>An-Denken</i> – Wir wissen, dass diese Gedanken, die uns miteinander verbinden nicht einfach Gedanken wie alle anderen sind; wenn ich beispielsweise nicht aufhören kann, an deine Ankunft oder deine Abfahrt – oder dein Verschwinden – zu denken, oder wenn mir unser Streit wieder in den Sinn kommt oder ich dir einen Liebesantrag mache. Solche Gedanken unterscheiden sich von 'gewöhnlichen' Gedanken, sie haben eine einzigartige Intensität und Vitaltät…<br />
</p><p>
<a href="https://www.merve.de/index.php/book/show/425" Target="_blank">Frédéric Worms</a> hat ein schönes Buch zum <i></i><a href="https://www.lesinrocks.com/2014/09/29/livres/frederic-worms-penser-cest-toujours-penser-quelquun-11526790/" Target="_blank">adressierten Denken</a> geschrieben: "Das Ziel dieses Buches ist einfach: Es besteht darin zu enftalten, warum 'an jemanden denken' nicht dasselbe ist wie 'etwas' denken, dass es aber zugleich auch keine Ausnahme für das Denken oder das Leben darstellt. Vielmehr ist es ein Modell des Denkens und eine Orientierung im Leben."<br />
</p><p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i></i><a href="http://www.planetlyrik.de/gennadij-ajgi-wind-vorm-fenster/2014/11/" Target="_blank">Gennadi Ajgi</a> – dieser liebenswerte, in russischer Sprache schreibende tschuwaschische Dichter. Vor einigen Jahren, knapp vor seinem Tod, war er in Wien und erzählte von seiner unbehausten Zeit in Moskauer Bahnhöfen…
</p><p>
</p><center>"In keiner sprache / bin ich vonnutzen."</center>
<p>
Ajgis kürzestes Gedicht <i>Genügsamkeit des Selbstlauts!</i> besteht nur aus einem einzigen lang gezogenen A und entfaltet seine Wirkung <i>zwischen den Schulterblättern</i>… <br />
</p><p>
"FELD FRÜHLINGS<br />
</p><center>den verstand deckt dort das wunder zu"</center><br />
<center>(1986)</center><br />
<p>
</p><center><a href="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Ajgi_Poesie.gif"><img src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Ajgi_Poesie_small.gif" width="100" alt="Ajgi_Poesie" align="center" title="" class="center" height="69" /></a></center>
<p>
</p><center><FONT SIZE="-3">*</FONT></center>
<p>
<i>der A-Plan</i> sah noch vor, von <i>affirmativer Ästhetik</i>, Henri Pichettes <i>Apoèmes</i> – "logique syncopée, mot-à-motrice, belle et rebelle…" – und nicht zuletzt von (Jean-Paul) <i></i><a href="http://poezibao.typepad.com/poezibao/2007/11/auxemry.html" Target="_blank">Auxeméry</a> zu erzählen.<br />
</p><p>
</p><p>
<i>Andermal ist auch ein Tag.</i><br />
</p><p>
</p><p></p>
Fundsteller
Copyright © 2018 Fundsteller
2018-03-26T21:17:00Z
-
RANDERSCHEINUNGEN (1)
https://fundstellen.twoday.net/stories/randerscheinungen/
<p>
<img width="400" alt="Wien, Westend: Der letzte Branntweiner vom Urban-Loritz-Platz (2015) ©2015 B.K. " title="Wien, Westend: Der letzte Branntweiner vom Urban-Loritz-Platz (2015) ©2015 B.K. " src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/WIEN_Spirituosen-Mocca_2.jpg" height="267" />
</p><p>
</p><p>
<font size="-4">Der letzte Branntweiner vom Urban-Loritz-Platz (2015)</font></p>
Fundsteller
Copyright © 2018 Fundsteller
2018-03-25T23:01:00Z
-
MONTAGETECHNIKEN
https://fundstellen.twoday.net/stories/elegien/
<p>
</p><center>MURIEL PICS DOKUMENTARISCHE ELEGIEN</center>
<p>
</p><center>"Es gibt keine dokumentarische Kunst ohne Trauergesang."</center><br />
<p>
</p><p>
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=LxJUKNYLP1I"><img Target="_blank" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Elegie_1_Schrifttitel-1.jpg" width="400" alt="Elegie_1_Schrifttitel-1" align="center" title="" class="center" height="250" /></a>
</p><p>
</p><p>
Aus einem unendlichen Ozean schriller oder nichtssagender Youtube-Bilderfolgen waren unvermittelt Muriel Pics <i>Rügen-Elegien</i> aufgetaucht – drei Minuten und sechsundvierzig Sekunden von unvergleichlicher Intensität.
</p><p>
</p><p>
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=LxJUKNYLP1I"><img Target="_blank" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Elegie_2_Wasser-1.jpg" width="400" alt="Elegie_2_Wasser-1" align="center" title="" class="center" height="250" /></a>
</p><p>
</p><p>
<i>Rügen</i> ist die erste von drei dokumentarischen Elegien um das thematische Spannungsfeld der Utopie. Sie befasst sich mit dem gigantischen Projekt, das die Nationalsozialisten auf der Ostsee-Insel Rügen in Angriff genommen, aber nie fertiggestellt haben: ein für 20.000 Menschen ausgerichtetes <i>Kraft-durch-Freude</i>-Ferienlager als fordistische Regenerations-Maschine. Wozu das daraus gewonnene logistische Wissen in der Folge gedient hat, ist bekannt. Die zweite Elegie <i></i><a href="http://www.maisondelapoesieparis.com/events/muriel-pic-elegies-documentaires/" Target="_blank">Miel</a> handelt vom Traum einer Honigbienen-Zivilisation im umkämpften Palästina, die dritte, <i>Orientation</i>, von einer den Planetenkonstellationen abgeschauten Raumordnung, die einen narrativen Bogen von indianischer Weisheit bis zur Erfindung der Atombombe im Zweiten Weltkrieg spannt. <br />
</p><p>
Die <i>Elegien von Rügen</i> (2016) schaffen mit wenigen Bild-, Text-, Ton-Elementen einen Zustand höchster dokumentarischer Verdichtung: vergilbte Fotos, Landkarten, Grundrisspläne aus dem Archiv – die sprechende und die flüsternde Frauenstimme – monotone Klaviermusik von einer Schallplatte, die immer wieder gewaltsam abgebremst, zum Stillstand gebracht und wieder losgelassen wird.
</p><p>
</p><p>
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=LxJUKNYLP1I"><img Target="_blank" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Elegie_3_Karte.jpg" width="400" alt="Elegie_3_Karte" align="center" title="" class="center" height="250" /></a>
</p><p>
</p><p>
Die Dokumente aus dem Archiv stellen mit der forschenden Betrachterin etwas an. Sie beschränken sich nicht darauf, historische Belege zu liefern, sondern übertragen Emotionen. Die dokumentarische Arbeitsweise verlangt nüchterne Distanz, aber es gibt darin auch etwas, das der wissenschaftlichen Herangehensweise zuwiderläuft. Es ist, als ob der Staub, der sich auf den Bildern und Karten angelegt hat, zum eigensinnigen und unberechenbaren Akteur würde.<br />
Zwischen Dokument und Betrachterin setzt ein verstörender Austausch ein. Ein düsterer Gesang, der weder auf das Dokument noch auf die Dokumentaristin zurückzuführen wäre, er setzt irgendwo dazwischen an und breitet sich entlang verborgener Kanalsysteme aus.<br />
<a href="http://journals.openedition.org/trivium/4209" Target="_blank">Muriel Pics</a> Filme dringen in diesen Kernbereich dokumentarischer Erfahrung vor. In die Momente, wenn etwas wie reine Intuition spürbar wird: Erfahrung im Werden, die sich aus dem Zustand der Formlosigkeit löst und erst allmählich Gestalt annimmt, bis sie zuletzt in Sagen, Sprechen, Reflektieren übergeht.
</p><p>
</p><p>
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=LxJUKNYLP1I"><img Target="_blank" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Elegie_5_Plan.jpg" width="400" alt="Elegie_5_Plan" align="center" title="" class="center" height="250" /></a>
</p><p>
</p><p>
Für <a href="https://www.literatur.ch/startseite/archiv/archivdatenbank/muriel-pic-8956-18.html" Target="_blank">Muriel Pic</a> ist die Elegie das adäquate Medium, um diese der bewussten Erfahrung vorausgehende Konfrontation mit dem Quellenmaterial zugänglich zu machen. Im antiken Griechenland bezeichnete die Elegie ein in Pentameter, später in Distichen gefasstes Gedicht mit einem vergleichsweise breiten thematischen Spektrum. Sie konnte Lob- oder Kriegslied sein, in ihr klangen philosophische, moralische, politische oder auch subjektiv-erotische Themen an. Die Einengung auf die Totenklage vollzog sich erst in späterer Zeit. Neuzeit und Moderne brachten zahllose Neudefinitionen der Elegie hervor, meist deuteten sie auf eine unüberbrückbare Kluft, einen unwiederbringlichen Verlust oder unauflösbaren Widerspruch.<br />
Für <a href="http://gutenberg.spiegel.de/buch/duineser-elegien-829/1" Target="_blank">R. M. Rilke</a> wird sie schließlich zu einem von metrischen Zwängen befreite Methodik des rhythmisierten Denkens.<br />
In Patti Smith <i></i><a href="https://www.youtube.com/watch?v=sSX1IyeKMYc" Target="_blank">Elegy</a> (1975) geht es – wie in den meisten anglo-amerikanischen Elegien – um einen Zustand des Zurückgelassen-Seins, dem es nicht mehr darauf ankommt, die Ursache des expansiven Klagegesangs zu bezeichnen. Verlust und Trauer haben sich zu einem Lebensgefühl verdichtet.
</p><p>
</p><p>
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=LxJUKNYLP1I"><img Target="_blank" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Elegie_4_Geba-ude.jpg" width="400" alt="Elegie_4_Geba-ude" align="center" title="" class="center" height="250" /></a>
</p><p>
</p><p>
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=awWi50_8akU" Target="_blank">Muriel Pic</a> hat sich als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin mit Henri Michaux, <a href="http://www.fabula.org/actualites/muriel-pic-le-desir-monstre-poetique-de-pierre-jean-jouve_16431.php" Target="_blank">Pierre Jean Jouve</a>, Aby Warburg, <a href="https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=d81ba968-1b7f-4242-9971-d77855a26a1f" Target="_blank">Edith Boissonnas</a>, Georges Bataille und Walter Benjamin auseinandergesetzt. Und sie ist eine profunde Kennerin <a href="http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/w-g-sebald-auf-ungeheuer-duennem-eis-nachtseiten-des-lebens-11566227.html" Target="_blank">W. G. Sebalds</a> (1944-2001), zu dem sie mehrere Bücher und Essays publiziert hat, darunter <i></i><a href="http://www.lespressesdureel.com/ouvrage.php?id=1461" Target="_blank">L‘image papillon</a> (Das Schmetterlingsbild).<br />
Für ihre Filme hat sie Sebalds literarische Montage adaptiert und radikalisiert. Möglicherweise lässt sich ihr Dokumentarismus am besten anhand ihrer Auseinandersetzung mit Sebalds Werk – das seinerseits auf die poetischen und kulturwissenschaftlichen Methoden <a href="https://fleursdumal.org/poem/103" Target="_blank">Baudelaires</a> und Benjamins zurückgreift – erschließen:
</p><p>
</p><p>
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=LxJUKNYLP1I"><img Target=" " src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Elegie_6_Foto.jpg" width="400" alt="Elegie_6_Foto" align="center" title="" class="center" height="250" /></a>
<p>
<p>
„Die Erzählungen [Sebalds] sind durch heterogene, in Zeit und Raum verstreute, der Geschichte der Menschheit und der Menschen entnommene Materialien verbunden. Zwischen ihnen treten völlig neue Korrespondenzen, Entsprechungen zutage. Sebald schreibt die Arbeit der Imagination ins Herz des Gedächtnisses ein: nicht nur im Sinn einer Fiktion, sondern im Sinn dieser ,quasi-göttlichen‘ Möglichkeit, die bei Baudelaire die Theorie der Korrespondenzen nährt – ,denn sie erhält zuerst und außerhalb der philosophischen Methoden die intimen und heimlichen Beziehungen der Dinge, Entsprechungen und Analogien‘. (…) Die Vergangenheit betrachten heißt, sich der Empathie aussetzen; das alte Gesetz der Hetzjagd, die den Jäger seiner Beute, einem Schmetterling anverwandelt. Die Recherchen des Autors ähneln jenen des Historikers, führen aber nicht zu einer Spurenanalyse im Hinblick auf eine objektive Wahrheit. Der Blick auf die Vergangenheit fixiert nicht, er nimmt Anteil, vermischt sich mit dem, was war, und verhilft ihm so zu neuem Leben.“ (Muriel Pic)
<p>
<p>
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=LxJUKNYLP1I"><img Target="_blank" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Elegie_7_Wasser-2.jpg" width="400" alt="Elegie_7_Wasser-2" align="center" title="" class="center" height="250" /></a>
<p>
<p>
Als ich die <i>Rügen-Elegien</i> zum ersten Mal sah, war ich elektrisiert. Zumindest ansatzweise dürfte sich die Erfahrung, die Muriel Pic im Berliner <a href="http://www.proradok.de/" Target='_blank'>Prora-Archiv</a> gemacht hatte, wiederholt haben. Nun wurde ich selber Zeuge eines Austausches, wie er sich zuvor zwischen den Dokumenten aus dem Archiv und dem forschenden Blick der Autorin ergab. Es fällt mir schwer aufzuzählen, was genau sich während dieser drei Minuten und sechsundvierzig Sekunden zugetragen hat. Sicher ist, dass in meinem Fall auch das Unbehagen in Bezug die gegenwärtig amtierende österreichische Regierungskoalition mit im Spiel war.<br>
Dreiundsiebzig Jahre nach dem Ende des Hitler-Regimes wurde in Österreich eine beachtliche Anzahl deutschnational gesinnter schlagender Burschenschafter in hohe Ämter gehievt. Ein beklemmend revisionistisches Spektakel wurde in Gang gesetzt, die Hoffnung auf eine Überwindung völkischer Phantasmen in Europa hatte sich als Utopie entlarvt. Am Vorabend des Internationalen Holocaust-Gedenktages wurde beispielsweise zum ausgelassenen Tanz fragwürdiger Eliten in die Wiener Hofburg geladen… – Die Rügen-Elegien musste mir in diesem Augenblick als das geeignete Gegengift erschienen sein.<br>
<p>
Aber es wäre verfehlt, Muriel Pics dokumentarische Gesänge auf eine Funktion zu reduzieren, selbst wenn es die edelste oder notwendigste wäre. Die poetische Kraft ihrer Filme entfaltet sich erst, wenn man alles, was man darüber zu wissen meint, bewusst in den Hintergrund rückt und sich ganz den Bildern, Worten, Klängen überlässt, bis man von ihrem einprägsamen Ostinato erfasst wird… – Was tun mit den Vermächtnissen? Sie neu erfinden ist das einzige, was bleibt.
<p>
<p>
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=LxJUKNYLP1I"><img Target="_blank" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Elegie_8_Schrifttitel-2.jpg" width="400" alt="Elegie_8_Schrifttitel-2" align="center" title="" class="center" height="250" /></a>
<p>
<p>
<font size="-2"><br />
<i>Literatur</i></font><br>
<p>
<font size="-2"><br />
Muriel Pic, <i><a href="http://www.editionsmacula.com/livre/117.html" Target='_blank'>Élégies documentaires</a></i>, Collection 'Opus incertum', dirigée pat Jean Christophe Bailly, Paris: <a href="http://www.editionsmacula.com/">Éditions Macula</a>, 2016.
<p>
– <i>En regardant le sang des bêtes</i>, Lyon: <a href="http://www.trente-trois-morceaux.com/" Target='_blank'>Éditions Trente-trois morceaux</a>, 2017. [Das <a href="https://www.youtube.com/watch?v=4VqO6COV_gI">gleichnamige Video</a> ist ebenfalls auf Youtube abrufbar.]
<p>
– <i>W. G. Sebald. L’Image papillon</i> (suivi de <i>W.G. Sebald L’Art de voler</i>, trad. en coll. avec Patrick Charbonneau), Dijon: <a href="http://www.lespressesdureel.com/" Target='_blank'>Les Presses du Réel</a>, collection « L’Espace littéraire », 2009.
<p>
– <i><a href="http://www.fabula.org/actualites/muriel-pic-le-desir-monstre-poetique-de-pierre-jean-jouve_16431.php" Target='_blank'>Le Désir monstre. Poétique de Pierre Jean Jouve</a></i>, Paris: Éditions du Félin, collection « Les Marches du temps », 2006.
<p>
Françoise Clédat, <i><a href="http://poezibao.typepad.com/poezibao/2017/03/note-de-lecture-muriel-pic-el%C3%A9gies-documentaires-par-fran%C3%A7oise-cl%C3%A9dat.html" Target='_blank'>Muriel Pic, 'Élégies documentaires'</a></i>, Note de lecture, <a href="http://poezibao.typepad.com/">Poezibao</a>, 2017.</p></p></p></p></font>
<p></p></p></p></p></p></p></p></p></p></p></p></p></p></p>
Fundsteller
Copyright © 2018 Fundsteller
2018-01-31T22:46:00Z
-
WIDERWORTE
https://fundstellen.twoday.net/stories/widerreden/
<center>"VERANTWORTUNG IST KEIN VAGES PHILOSOPHISCHES KONZEPT, SONDERN GREIFBARE REALITÄT"</center><p>
</p><p>
Donnerstag, fünfter Oktober, Vollmond, Tag der Verkündung des Nobelpreisträgers für Literatur 2017: Kazuo Ishiguro. <a href="https://www.franceinter.fr/culture/quand-jean-marie-gustave-le-clezio-lit-un-texte-inedit-sur-france-inter" Target="_blank">Jean-Marie Gustave Le Clezio</a>, französisch-mauritischer Schriftsteller, rastlos Reisender und Nobelpreisträger von 2008, verlas auf <i></i><a href="https://www.franceinter.fr/culture/quand-jean-marie-gustave-le-clezio-lit-un-texte-inedit-sur-france-inter" Target="_blank">france inter</a> einen eindringlichen Appell zu den aktuellen Fluchtbewegungen und Abwehrreaktionen:<br />
<br />
„In Wahrheit stellt jedes Drama der Flucht aus armen Ländern dieselbe Frage, die sich einst den Bewohnern von Roquebillière gestellt hat, als sie meiner Mutter und ihren Kindern Asyl anboten: die Frage der Verantwortung.“<br />
<br />
Zerrissene Welt. Auf der einen Seite Menschen, die durch den Zufall ihrer geographischen Positionierung, durch ihre seit Jahrhunderten bestehende ökonomische Macht und ihre Sozialisation im Zeichen von Frieden und Wachstum geprägt sind; auf der anderen Seite Völker, denen es am Notwendigsten, vor allem an demokratischen Strukturen mangelt. <br />
<br />
Hier kommt Verantwortung zum Tragen. Und die ist kein vages philosophisches Konzept, sondern greifbare Realität. <br />
<br />
Die Situation, vor der die nunmehr Entwurzelten geflüchtet sind, wurden von den reichen Nationen geschaffen: zuerst durch die gewaltsame Eroberung der Kolonien, später, nach Erlangung der Unabhängigkeit, durch die Unterstützung der Diktatoren, zuletzt durch das Anzetteln von bis zum Exzess geführten Kriegen, in deren Verlauf das Leben der einen wertlos wird, während sie für die anderen wachsenden Reichtum bedeuten. <br />
<br />
Was tun mit dieser Diskrepanz? Wie umgehen mit den zahllosen verängstigten, ausgelaugten, ausgesetzten Leuten? „Können wir sie ignorieren und den Blick abwenden? Akzeptieren, dass sie zurückgewiesen werden als ob ihr Unglück ein Verbrechen und Armut eine Krankheit wäre?“<br />
<br />
Wäre eine dritte Position denkbar, zwischen der utopischen Hoffnung auf eine universelle Verfassung – wobei die erste Verfassung, die auf Gleichheit basierte, nicht im antiken Griechenland und auch nicht im Frankreich der Aufklärung geschrieben wurde, sondern in Afrika, im <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Kouroukan_Fouga" Target="_blank">Königreich Mali</a> vor seiner Eroberung – und der paranoischen Abschottung durch präventive Barrieren wie Mauern oder Zäune? Wäre eine von Verantwortung getragene Position denkbar?<br />
<br />
„Wenn wir schon diese oder jene, die darauf angewiesen wären, nicht aufnehmen können, und wenn wir schon außerstande sind, ihrem Drängen durch Nächstenliebe oder Humanismus nachzukommen, so könnten wir es doch zumindest aus Vernunftgründen probieren, wie es die große <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/A%C3%AFcha_Chenna" Target="_blank">Aicha Ech Chenna</a> vorgeschlagen hat, als sie sich für Straßenkinder in Marokko einsetzte: 'Gebt, denn wenn ihr es nicht macht, werden euch diese Kinder eines Tages die Rechnung präsentieren.'“<br />
<br />
Le Clezio schloss seine Rede mit einem Zitat von Martin Luther King: „Wir haben gelernt wie Vögel zu fliegen und wie Fische zu schwimmen, was wir nicht gelernt haben, ist die einfache Kunst des Zusammenlebens unter Brüdern und Schwestern.“<br />
<br />
Man kann Le Clezios Plädoyer für pathetisch oder eine raffinierte Werbeaktion in eigener Sache halten, man kann ihn als naiv, weltfremd oder als kitschige Inkarnation des schlechten Gewissens Europas persiflieren, nichtsdestotrotz war diese Rede ein starkes Zeichen und der weithin hörbare Aufruf zu einer veränderten Diskussionskultur. <br />
<br />
*<br />
<br />
In Österreich würde man Le Clezio – zehn Tage vor der richtungsweisenden Nationalratswahl – vermutlich als „Gutmenschen“, Phantasten oder gar Verräter abqualifizieren. <br />
<br />
Laut Umfragen wird die Wahl am fünfzehnten Oktober jener christlich-soziale Politiker gewinnen, der sich rühmt, die sogenannte Balkanroute geschlossen zu haben. Mit ihr scheint auch die Möglichkeit zu einer tiefer greifenden öffentlichen Debatte blockiert zu sein.<br />
<br />
Nachdem sich unter dem Druck einer extrem rechten "Heimatpartei" alle größeren Parlamentsparteien auf weitgehende Abschottung verständigt haben, wird über Asyl- und Migrationsfragen nur noch unter negativem, tendenziell paranoischem Vorzeichen diskutiert. <br />
<br />
So gesehen hat Le Clezios Rede starken Österreich-Bezug. Es wäre gut, sie in deutscher Übersetzung zu verbreiten, und noch besser, sie von hier aus immer wieder neu zu formulieren. <br />
<br />
Sie wäre ein ideales Gegenprogramm zu diesem unwürdigen und verantwortungslosen, die parlamentarische Demokratie nachhaltig schädigenden Wahlkampf-Spektakel.</p>
Fundsteller
Copyright © 2017 Fundsteller
2017-10-06T03:04:00Z
-
NISCHENPROGRAMME
https://fundstellen.twoday.net/stories/nischenprogramme/
<center>ARRABAL IN WIEN</center>
<p>
</p><p>
Neunter Juni, neunzehn Uhr, Sargfabrik in der Goldschlagstraße, vierzehnter Wiener Gemeindebezirk, Vollmond. An einem Kaffeehaustisch im Foyer des Theaters saß Arrabal. Er sah müde aus. Nach dem morgendlichen Flug aus Paris und einem Nachmittag in Wien war das nicht weiter verwunderlich. Das <a href="https://www.wienervorstadttheater.com/" Target="_blank">Wiener Vorstadttheater</a> gab ein Stück von ihm, <i>Und sie legen den Blumen Handschellen an</i>, eine dramatische Hommage an <a href="http://www.planetlyrik.de/federico-garcia-lorca-die-gedichte/2010/03/" Target="_blank">Frederico Garcia Lorca</a>. <br />
<br />
Arrabal ließ es sich nicht nehmen, bei diesem Ereignis persönlich anwesend zu sein. (Übrigens bedeutet 'arrabal‘ im Spanischen Vorstadt.) Dass es sich dabei um keinen von medialen Trommelwirbeln angekündigten Rampenlicht-Event handelte, störte ihn nicht. Im Gegenteil, gerade der Umstand, dass es sich um ein Bühnenexperiment drehte, dessen Darsteller Exilierte und Migranten waren, spiegelte seine künstlerische Intention wider. <br />
<br />
An dieser Stelle wäre es angebracht, auf die Theaterproduktion näher einzugehen. Vorläufig nur soviel: Sie hätte größeres Interesse verdient als ihr zuteil wurde. Sie bezog eigentümliche Kraft aus der Sparsamkeit der eingesetzten Mittel, es war <i>Sprechtheater</i> im engsten Sinn: die unterschiedlichen Akzente der Darstellerinnen wirkten wie ein Parallel-Ensemble, das einem ganz eigenen Rhythmus folgte; jeder gesprochene Satz bahnte sich seinen unberechenbaren Weg aus der Kehlkopfgegend ins Offene… Dass die Premiere des Gefängnisstücks nur drei Tage nach der Verhaftung des türkischen Amnesty-Vorsitzenden <a href="https://www.amnesty.at/de/vorsitzender-von-amnesty-international-tuerkei-in-haft/" Target="_blank">Taner Kilic</a> stattfand, verlieh ihr besondere Brisanz. <br />
<br />
Aber ich möchte Spur halten und bei der Person Arrabal bleiben. Ihr war ich als junger Leser in den späten 1970er Jahren zum ersten Mal begegnet. Arrabals Texte mussten mir damals als Ausweg erschienen sein, als eine unter mehreren Notleuchten, die mir den Weg ins Freie wiesen. <br />
<br />
Im Keller der Sargfabrik drängte sich mir das Bild von Arrabals labyrinthischem Gehsteig auf: der erratische Linienverlauf, den dieser so fragil wirkende Mann seit seiner Kindheit in den 1930er Jahren auf den Erdball gezeichnet hat, bevor er an diesem Vollmondabend die Goldschlagstraße entlang kam und die Treppen in den Keller der Sargfabrik hinunterstieg. <br />
<br />
Vielleicht lässt sich diese Wegstrecke in schnellem Strich und ohne Anspruch auf Vollständigkeit nachzeichnen, um zuletzt auf einen kürzlich in <i></i><a href="http://www.lemonde.fr" Target="_blank">Le Monde</a> erschienenen Text von ihm zu kommen, der die Person Arrabal und ihre künstlerische Geste auf fast beiläufige Art auf den Punkt bringt. <br />
<br />
*<br />
<br />
<i>Melilla, 1932</i> – Am elften August, einem Donnerstag, wurde Arrabal in der Festungsstadt an der nordafrikanischen Mittelmeerküste geboren. Heute kennen wir die Stadt als spanische Exklave und Symbol für die ,<a href="https://www.boell.de/de/2015/01/09/bis-die-zaeune-bewaffnet" Target="_blank">Festung Europa</a>‘: die hohe Kunst der Umzäunung, raffinierte Technologie im Dienst der Menschenverachtung usw.. Von dort aus nahm 1936 der Spanische Bürgerkrieg seinen Ausgang. <br />
<br />
Arrabals Vater war als Offizier der spanischen Armee in Melilla stationiert. Nachdem er die Teilnahme am Staatsstreich verweigert hatte, wurde er zum Tod verurteilt und in ein Gefängnis in Burgos verlegt. Unter mysteriösen Umständen soll ihm die Flucht gelungen sein. Seine Spur verlor sich. Die Familie erfuhr nie, wann und unter welchen Umständen er zu Tode gekommen war. <br />
<br />
Rodrigo bei Salamanca und das Umland von Madrid waren Arrabals Kindheitslandschaften, bevor er 1947 für eine Weile nach Toulouse, später nach Valencia wechselte. Mit der Rückkehr des Zwanzigjährigen nach Madrid begann die schriftstellerische Laufbahn. Er schrieb mehrere Stücke, <i>Le Toit</i> (Das Dach), <i>La Blessure incurable </i>(Die unheilbare Wunde), später <i>Fando et Lis</i> und <i>Pique-nique en campagne</i> (Picknick im Felde), das einige Jahre später zu einem seiner großen Erfolg werden sollte. <br />
<br />
Symptome einer TBC-Erkrankung machten sich bemerkbar: Monate der unfreiwilligen Ruhigstellung, des Lesens und der Träumerei. Wo die horizontale Fortbewegung auf Hindernisse stieß, setzten vertikale Bewegungsformen ein: Energieströme zwischen Erdkern und Atmosphäre, oder, wie man im katholischen Spanien gesagt hätte, zwischen Hölle und Himmel. <br />
<br />
Bei einem Studienaufenthalt in Paris lernte er Luce Moreau kennen, seine Übersetzerin ins Französische, die ein paar Jahre später seine Ehefrau und die Mutter der beiden Kinder Lélia und Samuel werden sollte. Mit dem endgültigen Wechsel ins Pariser Exil setzte das Stakkato freundschaftlicher Begegnungen und befremdlicher Aktionen ein. <br />
<br />
Er traf auf <a href="https://www.nytimes.com/topic/person/samuel-beckett?offset=0&s=newest" Target="_blank">Samuel Beckett</a>. (Es wird generell zuwenig Beckett gelesen.) Der kanadisch-französische Objektkünstler Jean Benoit machte ihn mit André Breton bekannt. Arrabal hatte inzwischen zwei Gedichtbände publiziert, <i>Humbles Paradis</i> (dts.: <i>Insektengedichte</i>) und <i>La Pierre de la folie</i> – darin gibt es ein merkwürdiges und programmatisches Bild:<br />
<br />
Einem schlaflosen Geist begegnet jedes Mal, wenn ihm die Lider zufallen, ein Augenpaar, das ihn quasi von der Innenseite her anblickt. Es sind die Augen einer Sphinx in Löwengestalt, es ist die im Louvre befindliche <i></i><a href="http://www.louvre.fr/en/oeuvre-notices/great-sphinx-tanis" Target="_blank">Große Sphinx von Tanis</a>. In ihrem einen Auge erscheint der Schriftzug PEUR/Angst, im anderen ESPOIR/Hoffnung. Kurz darauf wird die Sphinx ihre Augen schließen, die des schlaflosen Geistes sind noch weiter aufgerissen als zuvor: Angst und Hoffnung, diese Bremsbacken. Wenn es doch gelänge, sie beide mit einem Ruck abzuwerfen…<br />
<br />
Arrabal wurde eingeladen, sich dem Kreis der Surrealisten bzw. dem, was davon übrig war, anzuschließen. In einem Gespräch mit <a href="http://www.liberation.fr/auteur/8848-alain-schifres" Target="_blank">Alain Schifres</a> schilderte er das Unbehagen, das die Vorstellung, einer bereits bestehenden Gruppe beizutreten, in ihm ausgelöst hatte. In der No.4 der Zeitschrift <i></i><a href="http://bibliothequekandinsky.centrepompidou.fr/clientbookline/service/reference.asp?output=PORTAL&INSTANCE=INCIPIO&DOCBASE=CGPP&DOCID=0467674" Target="_blank">La Brèche. Action surrealiste</a> publizierte er Auszüge aus dem Stück <i>La Communion solenelle </i>(Die feierliche Kommunion). Zur selben Zeit entstand der autobiographische Roman <i>Baal Babylone </i>(1959), der die Vorlage für seinen ersten Spielfilm <i></i><a href="https://www.youtube.com/watch?v=m2MRWRnSzs4" Target="_blank">Viva la Muerte!</a> werden sollte; darin schilderte er das Franco-Regime und dessen Auswirkungen auf das familiäre Umfeld aus der Perspektive eines Zwölfjährigen. <br />
<br />
Während in Paris die ersten Stücke uraufgeführt wurden, reiste er durch die USA. In New York geriet er in das Umfeld der Dichter aus der Beat-Generation. In Paris warteten indessen zwei gleichermaßen exilierte und kongeniale Geister auf ihn, der aus Polen stammenden Autor und Zeichner <a href="https://www.boutiquesdemusees.fr/fr/catalogues-exposition/le-monde-selon-topor/11795.html" Target="_blank">Roland Topor</a> und der ukrainisch-chilenische Regisseur <a href="https://www.youtube.com/watch?v=Z_vBeKa_SHQ" Target="blank">Alejandro Jodorowsky</a>. Gemeinsam gründeten sie das <i></i><a href="http://www.editions-harmattan.fr/index.asp?navig=catalogue&obj=livre&no=26578" Target="_blank">Mouvement Panique</a>, ein Laboratorium für theatralische Grenzüberschreitungen: „Mein Theater ist antireligiös bis zum Mystizismus oder religiös bis zur Blasphemie.“ <br />
<br />
1967 kehrte Arrabal noch einmal nach Spanien zurück. Das war, wie sich bald herausstellen sollte, keine so gute Idee. Er wurde wegen "Blasphemie gegen das Regime" festgenommen. Samuel Beckett startete eine internationale Petition, die u. a. von François Mauriac, Eugène Ionesco, Henry Miller unterzeichnet wurde. Aus dieser Zeit stammt das Gefängnisstück dieses Abends.<br />
<br />
Anfang der 1970er Jahre lernte Arrabal Pier Paolo Pasolini kennen und begann selbst Filme zu drehen: <i></i><a href="https://www.youtube.com/watch?v=m2MRWRnSzs4" Target="_blank">Viva la muerte!</a> (1971); <i>Ich werde laufen wie ein verrücktes Pferd </i>(1973); <i>Der Baum von Guernica</i> (L‘arbre de Guernica, 1975)… – dieser Film erschien zeitgleich mit Pasolinis auf Sade basierendem Jahrhundertwerk <i></i><a href="https://www.youtube.com/watch?v=IpmlsIvez9U" Target="_blank">Saló oder die 120 Tage von Sodom</a>; neben diesem Film mussten freilich alle thematisch verwandten verblassen… – <i>La traversée de la Pacifique</i> (1982) mit Mickey Rooney und <i>Le Cimetière des voitures</i> (Der Autofriedhof, 1983) mit der früh verstorbenen Rock-Ikone <a href="https://www.youtube.com/watch?v=j0ZKEcrKf80" Target="_blank">Alain Bashung</a> in der Hauptrolle; <i>Adieu Babylone </i>(1992), nicht zuletzt <i>Una vida de poesia </i>(1998) mit und über <a href="https://www.poetryfoundation.org/poets/jorge-luis-borges" Target="_blank">Jorge-Luis Borges</a>…<br />
<br />
*<br />
<br />
Man kann sich dem Arrabal-Universum aus verschiedenen Richtungen nähern, über die Filme, die Inszenierungen der Stücke oder über die in den Theatertexten, Prosastücken und Gedichten versteckten Energiefelder. Ich persönlich neige zum Purismus der Worte, zur knappen, aussparenden Form. Der Abgrund zwischen zwei Textzeilen, die unüberwindliche Distanz zwischen Frage und Antwort im Dialog, das sind die Orte, an denen die Potenziale des alltäglichen Irrsinns am deutlichsten zutage treten. Der initiale Funke einer Ekstase kann mehr als ihre großzügigste szenische Ausformulierung. Es liegt in der Natur der erotischen Obsession, dass sie tiefer und weiter reicht als die Mittel ihrer Darstellung. <br />
<br />
(Heute ist die pornographische Industrie für die szenische Inszenierung von Obsessionen zuständig. Sie betreibt ein Werk der Zerstörung. Jede existenzielle Erfahrung erscheint, bevor sie noch gemacht werden könnte, an ein bestehendes Konsumangebot gekoppelt. Jede Frage scheint beantwortet, bevor sie noch entfaltet werden kann. Was immer tiefer greifendes Interesse wecken könnte, wird in vorgefertigten Instant-Intensitäten erstickt. Damit erübrigen sich Denken und Träumen.)<br />
<br />
In Arrabals Werk eintreten heißt, sich einem Karneval der Obsessionen anzuschließen. Hier überlagern sich Grausamkeit und Lachen, Jubel und Schmerzgeschrei sind nicht mehr klar zu unterscheiden. Sich auf ihn einzulassen, bedeutet ein temporäres Heraustreten aus der Alltagsvernunft. Das aus den Hohlräumen in seinen Texten hervorquellende häretische Wissen scheint gerade in antiseptischen Epochen wie der unseren wieder an Bedeutung zu gewinnen.<br />
<br />
Die finsteren Zonen sind zu durchschreiten. Die abgründige Erfahrung ist im ganzen Ausmaß zu durchleben. Je weniger Angst oder Hoffnung bzw. Kalkül dabei mitspielen, desto besser. Die Treppen hinunter steigen – <i>Katabase</i> – Schichtung um Schichtung hinter sich lassen, um in das noch ferner liegende Areal vorzudringen. Womöglich findet sich ja dort das Rohmaterial, aus dem sich - sofern man es schafft, es zurück hinauf, in strahlendes Sonnenlicht zu hieven - die schönen Dinge herstellen lassen. <br />
<br />
<i>Hacedores </i> ist eines der Zauberworte des verspielten Demiurgen, der die finstersten Elemente mit verblüffender Leichtigkeit in freundliche Lichtquellen verwandelt. <i>Hacedores</i> aus dem spanischen ,hacer‘ für machen, herstellen, schaffen… – im antiken Griechenland hatte man es ,poiesis‘ genannt. <br />
<br />
(Mag sein, vielleicht ist es nur der Blick auf eine <a href="http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-welt-von-gestern-6858/1" Target="_blank">Welt von gestern</a>. Aber es ist zugleich einer auf die perzeptiven und sozialen Werkzeuge, die man in dieser Epoche gefertigt hat und die einiges konnten…)<br />
<br />
In den letzten Jahren hat sich Arrabal auf poetische Plastiken spezialisiert. Die in den Texten versteckten Energiekerne nehmen dreidimensionale Form an und gewinnen als Skulpturen, Figurinen, Raum greifende Gedichte oder „prekäre Konstruktionen“ (Léonore Chastagner) haptische Qualität. Zudem wirkt Arrabal als außerordentlicher Satrap im <i></i><a href="http://www.college-de-pataphysique.fr/presentation_en.html" Target="_blank">Collège de 'Pataphysique</a>, der denkbar würdigsten real existierenden (para-)literarischen Vereinigung. Und er schreibt in diversen Magazinen wie z. B. <i></i><a href="http://laregledujeu.org/la-regle-du-jeu/" Target="_blank">La Règle du jeu</a>. <br />
<br />
Als 2016 der Literaturnobelpreis an Bob Dylan vergeben wurde, erschien in <i></i><a href="http://www.lemonde.fr/idees/article/2016/10/23/le-palmares-des-poetes_5018743_3232.html" Target="_blank">Le Monde</a> ein kleiner, intensiver Text von Arrabal. Darin klang eine Zornrede an, letztlich blieb es aber bei einer sanften, aber entschlossenen Erinnerung, wo und unter welchen Bedingungen Kunst, Dichtkunst entsteht: <br />
<br />
*<br />
<br />
"In meinem ganzen Leben habe ich bedauerlicherweise nur sehr wenige Dichter gekannt. Ich habe vor allem Schachspieler besucht. Diese gewaltfreien Boxer, die sich Handschuhe aus Kaugummi überziehen. <br />
<br />
… in meinem ganzen Leben habe ich keinen Dichter gekannt, der von seiner Feder leben hätte können. Mit Barcodes. <br />
<br />
… in meinem ganzen Leben habe ich keinen reichen oder aus begüterter Familie stammenden Dichter gekannt. Wie Roussel, Proust oder, zu seiner Zeit, Chateaubriand. <br />
<br />
… in meinem ganzen Leben habe ich keinen Dichter gekannt, der auf einer Bestenliste hätte aufscheinen können. Weder auf der Liste der 'populärsten', noch der 'reichsten' oder 'berühmtesten' Personen. Auch auf der Liste der 'einflussreichsten' Personen erschienen Dichter, die ich gekannt habe, nicht. Dafür sah ich in fast jedem Jahr die Namen Ophrah Winfrey, Kim Jong-un, George Clooney oder Lionel Messi. <br />
<br />
… in meinem ganzen Leben habe ich keinen einzigen Dichter gekannt, der von einem Sekretär begleitet worden wäre. Die meisten hatten oder haben einen Mitarbeiter. Das heißt einen Freund. Einen Intimus, der ihnen freiwillig, auf Mutter-Teresa-Art weiterhilft. <br />
<br />
… in meinem ganzen Leben habe ich keinen Dichter gekannt, der gezwungen gewesen wäre, sich zu schützen. Durch Exklusivität. Ausgeweitet auf weltweit gültiges Recht. Für alle und jede einzelne seiner Schriften. In allen Sprachen. Sogar in Volapük für Kanarienvögel. Als ich meinen letzten Film mit Borges (,Une vie de poésie‘) drehte, wurde er spontan von jemanden gefragt: „Wie schützen Sie sich gegen Raubdrucke?“ – „Mich schützen? Es ist mir ein großes Vergnügen so völlig unverhofft hier oder dort publiziert zu werden…“<br />
<br />
… in meinem ganzen Leben habe ich keinen einzigen Dichter gekannt, der es „bis hierher“ gehabt hätte, auf das „tausendunderste Interview“ zu antworten. Oder das Vorwort zu einem Werk zu verfassen. Oder Artikel zu schreiben. Oder auf Konferenzen zu sprechen. Die stummen Psychiater sind perfekt für Boa-Gebisse. <br />
<br />
… in meinem ganzen Leben fristete der Großteil der Dichter, die zu kennen ich unverdient das Glück hatte, das Leben unter prekären Bedingungen. André Breton hat in Paris in einem winzigen Zwischenstock gehaust. Zwischen zwei Etagen. Er bewohnte keinen zweiten oder dritten Stock, sondern eine Art Studio, das dazwischen eingebaut wurde. Wenn ich ihn getroffen habe, musste ich meinen Körper auf seinem Tisch unterbringen. Der nahm beinahe den gesamten Raum in Anspruch. Boulevard de Port-Royal. Alfred Jarry hat gleichermaßen ein Miniatur-Studio gekannt. Das seine. So ähnlich. Gleichermaßen zwischen einer zweiten und dritten Etage gelegen. Er hat es „Leidensweg zum Tod“ genannt.<br />
<br />
… in meinem ganzen Leben habe ich ausschließlich Dichter gekannt, die keinerlei Problem mit 'Steuerparadiesen' gehabt haben. Die meisten starben überschuldet. Zu ihrer größten Ehre. Heute wissen wir (durch jüngere medizinische Studien), dass Alfred Jarry den Hungertod gestorben ist. <br />
<br />
… in meinem ganzen Leben hat sich nicht ein einziger meiner Dichterfreunde über diese Situation beschwert. Unwürdig?<br />
<br />
… mein ganzes Leben hindurch habe ich die besten unter ihnen ihre Tage unter dauernder Verfolgung durch Gerichtsvollzieher beenden gesehen. Oder bedrängt von mikroskopischen Einkünften. Dank dieser (oder trotz dieser) Einkünfte hat Alfred Jarry die ,Heldentaten und Lehren des Dr. Faustroll (Pataphysiker)‘ geschrieben. <a href="https://upload.wikimedia.org/wikisource/fr/b/b1/Jarry_Faustroll_1911.pdf" Target="_blank">Ein exemplarisches Buch</a>. Ein Monument. <br />
<br />
… in meinem ganzen Leben haben die Dichter, die ich kannte, die Provokation gehasst oder als unerträglich empfunden. Für sie war sie immer nur eine entsetzliche Wucherung: zufällig, hoffnungslos, sich im Kreis drehend, vor allem unkontrollierbar. <br />
<br />
… in meinem ganzen Leben haben sich die Dichter, die ich kannte, weder als Visionäre noch als Propheten betrachtet, sie bezeichneten sich wie ihre griechischen Vorfahren als ,hacedores‘.<br />
<br />
… in meinem ganzen Leben haben sich die Dichter, die ich kannte, mit einer Hingabe wie man sie für den Eintritt in eine Religion braucht, für die Literatur eingesetzt. Ohne Haltegriffe. Über nichts als die Leere gebeugt. <br />
<br />
<i>Ein ironischer Preis aus der Grauzone </i><br />
<br />
Ich kannte Allen Ginsberg und Andy Warhol… in der Vorgeschichte. Das heißt im Jahr 1959. Wenn er mich sah, lud mich Ginsberg in seinen Verschlag ein. Am selben Abend. Er hat mich mit seinem Freund Pierre empfangen, der nackt war und im Begriff, sich zu entleeren. <br />
<br />
In demselben Jahr hat die Fondation Ford sechs europäische Nachwuchsliteraten („die eines Tages Berühmtheit erlange würden“!) dazu eingeladen, die USA kennenzulernen. Trotz dieser Pirouette des Gottes Pan wurde die Fondation auf quasi-magische Art ihrer Aufgabe gerecht. Indem sie Günther Grass für Deutschland, Italo Calvino für Italien, Hugo Claus für Belgien und <a href="https://www.theguardian.com/books/2015/aug/27/charles-tomlinson" Target="_blank">Tomlinson</a> für England vorschlug. Et tutti quanti. Nur in Bezug auf Spanien haben sie sich getäuscht: denn dafür war ich der glückliche Auserwählte. <br />
<br />
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=Bwk7wFdC76Y" Target="_blank">Marcel Duchamp</a> realisierte in den USA <i>Étant donnés</i>. Sein gigantisches und entscheidendes Projekt. Dabei findet es sich nur in seinen Heften. Er gab Französischstunden um sein miserables Hotelzimmer bezahlen zu können. Der Grenzen überschreitende Simon Leys musste nach Australien emigrieren. Man Ray war in seinem Pariser Atelier nur durch einen Schirm vor Regen geschützt… Und auch Magritte. Oder Giacometti. <br />
<br />
Roland Topor hat sich zum Sterben in ein Wächterhäuschen zurückgezogen. Ionesco hat Jahrzehnte lang unter ähnlichen Umständen gehaust. Beckett hat ein halbes Jahrhundert in der rue des Favorits gelebt. In einer Dienstbotenkammer. Wie fast alle seiner heutigen Kollegen. Wie der Philosoph, der bis ans Ende seiner Tage ein Zehn Quadratmeter-Zimmer mit <a href="https://emcioranbr.org/2012/09/14/interview-de-simone-boue-par-norbert-dodille-sur-cioran/" Target="_blank">Simone</a> (Boué; <i>Anm.</i>) teilte. <br />
<br />
Einmal verborgen, plötzlich – auf unerwartete Weise – nach dieser ganzen Privation – wird den Verstorbenen schließlich „Ehre“ zuteil. Wie ein ironischer Preis, den sie aus der Grauzone erhalten. <br />
<br />
Trotzdem haben die besten unter ihnen unentwegt ihr Leben verändert. Und die Welt. Und sogar die simple politische Geographie. Mit ihren Fraktalen, ihrer Inkompatibilität, ihrem Tohuwabohu. <br />
<br />
Keine Zivilisation war je in der Lage, ein solches Ausmaß an Gewissheit zu generieren. Wäre womöglich die Konfusion das ideale Gegenprogramm, um sich aufrecht zu erhalten? Haben alle Dichter im Schweiße ihrer Undiszipliniertheit gelebt? Zugleich hier und am äußersten Rand? <br />
<br />
Ja. Die 'lebenden Dichter' sind es nur im Moment ihres Verborgen-Seins. Definitiv." (Fernando Arrabal)
</p><p>
</p><p>
(Übersetzung: Bernhard Kellner)
</p><p>
</p><p>
</p><p>
<img width="380" alt="ARRABAL_The-a-tre-panique_2" title="" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/ARRABAL_The-a-tre-panique_2.jpg" height="417" />
</p><p>
</p><p></p>
Fundsteller
Copyright © 2017 Fundsteller
2017-07-09T21:44:00Z
-
FERNWIRKUNGEN
https://fundstellen.twoday.net/stories/fernwirkungen/
<center>WO DIE GEFAHR WÄCHST</center>
<center><br />
<font size="-2">Über eine kürzlich erschienene Anthologie neuer griechischer Lyrik<br />und zwei Gedichte von Anna Griva</font></center>
<p>
</p><p>
Ein Gedicht kann man nicht nacherzählen. Bestenfalls lässt sich der Moment vergegenwärtigen, in dem man darauf gestoßen ist und davon elektrisiert wurde. Die Begegnung mit der 1986 in Athen geborenen Schriftstellerin Anna Griva hatte Ereignischarakter. Der Sturz in ihre Gedichte war zugleich ein sehr persönlicher und zutiefst europäischer Moment. Inmitten einer Welle der Re-Nationalisierung und der allgemeinen Zuspitzung der Lebensverhältnisse wurde eine ferne Stimme hörbar, die man seit jeher zu kennen meint. <br />
<br />
Anna Grivas Gedicht <a href="http://www.poiein.gr/archives/32431/index.html" Target="_blank">'Silk Pure Silk'</a> (Μετάξι ολομετάξι) versetzt seine Leser unversehens in eine provisorische Athener Behausung. Darin agieren Leute, die jenen aus meinem sozialen Umfeld stark ähneln und die ebenso verzweifelt versuchen, den täglichen Betrieb aufrecht zu erhalten. In Athen läuft es noch grundsätzlicher ab: jeden Moment könnte der Strom abgestellt werden, aus dem Wasserhahn dringen sonderbare Geräusche, das Wasser bleibt aus. In einer dieser Wohnungen kommt es zu einer Interaktion zwischen Mensch und Stubenfliege:<br />
<br />
I catch a fly in my hands<br />
the anguish of her wings tickles me<br />
if I squeeze a little she dies<br />
if I slacken she gets away<br />
it‘s best I keep still (…)<br />
<br />
<i>It‘s best I keep still.</i> – Innehalten, ins Leere sprechen angesichts einer vagen Gefahr, deren konkrete Ausformungen man noch nicht kennt. Die Leser werden Zeugen der unwillkürlichen Einfühlung in ein panisches Insekt. Dem durchschnittlichen Mitteleuropäer könnte dazu Franz Kafkas <a href="http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-verwandlung-165/1" Target="_blank">Verwandlung</a> einfallen, aber Anna Grivas Mutation ist weniger Raum füllend, weniger dramatisch. Sie ist flüchtig, beiläufig wie fast alles, was man alltäglich tut. <br />
<br />
Im Mittelteil des Gedichts kommt es zu zwei Anrufungen. Sie sind an eine biblische und an eine mythologische Frauengestalt gerichtet, an <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Dorkas" Target="_blank">Dorkas/Tabita</a> und eine <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4nade" Target="_blank">Mänade</a>. <br />
Dorkas ging als Ikone der unerschöpflichen Warmherzigkeit und Hilfsbereitschaft in die Geschichte, die Apostelgeschichte (9,36) ein: "In Joppe lebte eine Jüngerin namens Tabita, das bedeutet: Gazelle. Sie tat viele gute Werke und gab reichlich Almosen…" Die Mänaden waren aus anderen Hölzern geschnitzt. Sie standen im Nahverhältnis zu Dionysos und begleiteten die ihm gewidmeten Umzüge. Dabei trugen sie Reh- oder Pantherfelle und verfielen häufig in Raserei. Was in ihnen oder um sie herum bebte, war zu stark um ruhig bleiben oder strukturiert sprechen zu können.<br />
<br />
<i>Was tun?</i> Die Hand öffnen, sodass die Handfläche für die Fliege zur Startpiste wird, oder die Muskeln zusammenziehen? Die Fliege aus Anna Grivas Gedicht bleibt unbehelligt. Benommen flattert sie los, geradewegs in den nächst größeren Käfig, in das Raumvolumen, das beide, die Fliege und das dichterische Ich, in sich einschließt. Wenn dieses Zimmer eine Faust ist, was wird es/sie tun, sich zusammenziehen oder öffnen? Ungleiche Gefangene teilen eine Ungewissheit… – <i>to decorate together the night‘s inevitable gordle</i>.<br />
<br />
<i>Das unvermeidliche Korsett der Nacht.</i> – Die (An-)Verwandlung ist vollzogen. Während sie bei Kafka noch eine singuläre Erscheinung war, die aus der Sicht einer Disziplinargesellschaft beschrieben wurde, handelt es sich hier um blitzartige Mikro-Mutationen im prekären Jetzt. Sie ereignen sich unter kontrollgesellschaftlichen Bedingungen, wo jeder Einzelne in Personalunion als sein eigener Polizist, Ankläger und Richter auftritt und das globale Scheitern willfährig auf das persönliche Schuldkonto verbucht. <br />
<br />
*<br />
<br />
<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Karen_Van_Dyck" Target="_blank">Karen Van Dyck</a>, Herausgeberin der Anthologie <a href="https://www.penguin.co.uk/books/292028/austerity-measures/" Target="_blank">'Austerity Measures'</a>, die auch einige Gedichte von Anna Griva enthält, hat den aktuellen Zustand Griechenlands in einem Essay für <a href="http://www.theguardian.com/books/2016/mar/25/new-greek-poetry-karen-van-dyck" Target="_blank">The Guardian</a> so zusammengefasst: Hunger, Arbeitslosigkeit, immer weiter gekürzte Pensionen und ruinierte Läden. Strom- und Wasserknappheit haben einen Level erreicht, den man sonst nur aus Kriegsgebieten kennt. Mehr als 27% der Griechen sind beschäftigungslos, 55% der jungen Leute haben das Land verlassen, um im Ausland ein Auskommen zu finden. Im Jahr 2014 wuchsen vier von zehn Kindern in Armut auf: "Die Staatsschulden sind die höchsten in Europa, mehr als 180% des BIP, und die Sparmaßnahmen lassen den Verbleib in der Eurozone ebenso unmöglich erscheinen wie den Ausstieg aus der gemeinsamen Währung. Die Notwendigkeit schneller Antworten wirft die Wählerschaft in politische Extreme. Gebrochene Versprechen und Korruption bringen auf allen Seiten unbegründete Anklagen und Fatalismus hervor."<br />
<br />
Griechenland ist ein Modellfall für europäischen Binnenkolonialismus geworden. Jeder Bankrott im Land lässt andernorts die Kassen klingeln. Ein Zehn-Millionen-Menschen-Staat fungiert als Versuchskaninchen, an dem ausgetestet wird, wie weit ein zynisches Wirtschaftssystem gehen kann. Die Generation der Zwanzigjährigen und ihre jüngeren Geschwister müssen sich auf Zukunftslosigkeit einstellen. Das fällt ihnen naturgemäß nicht leicht. <br />
<br />
<i>Austerity Measures</i> – Die Maßnahme und das Maßnehmen. An welches Maß will man sich halten? Hier trifft die Unverhältnismäßigkeit der Finanzwirtschaft und ihrer Institutionen auf ein altes Wissen über Proportion und Rhythmus. Die ,Maßnahmen‘ im Titel meinen beides, den Verlauf staatlicher Eingriffe und vor allem die poetischen Strategien, die ihnen entgegen gesetzt werden können: das Versmaß, der Rhythmus, die Vielfalt der Relationen, die sich aus dem Zusammenspiel von Einzelteilen im Bezug auf ein Ganzes ergeben… <br />
<br />
*<br />
<br />
<i>Im Ameisenstaat lässt sich schwerlich denken… </i>– In Anna Grivas Gedicht 'The Ant‘s Lesson' (το μάθημα των μυρμήγκιων) sind es gleichgeschaltete Ameisenverbände, die sich durch den Leser hindurch ihren Weg bahnen. Hier geht es um eine andere Art der Verwandlung, um eine kollektive, massenhafte, scheinbar unausweichliche Tier-Werdung. (Jedes Gedicht von Anna Griva nimmt Bezug auf tierische Mitbewohner.) Es führt in eine Welt, in der es nur noch um das reine Überleben geht; wo alle Menschen aus Dauererschöpfung heraus agieren und keine Ressourcen, wofür auch immer, übrig bleiben. Es ist ein Lebensrhythmus, in dem es keine klärende Leerstelle mehr gibt. Leben unter Bedingungen des Austeritäts-Edikts. <br />
<br />
"Tag und Nacht sehe ich von Arbeit zerstörte Menschen. Erschöpfte, verängstigte Menschen. Sieht ganz so aus, als ob man ohne Angst nicht mehr arbeiten könnte. Sieht ganz so aus, als ob man nicht dafür bezahlt würde, dass man sich eine Existenz schafft, sondern dafür, dass man Angst hat…" – So hat es Grivas Schriftstellerkollege <a href="http://www.spiegel.de/kultur/literatur/christos-ikonomou-warte-nur-es-passiert-schon-was-rezension-a-890175.html" Target="_blank">Christos Ikonomou</a> ausgedrückt. <br />
<br />
Anna Grivas Gedicht endet auf einen Mänaden-Tanz: Wenn man schon nicht denken kann, kommt tanzen am besten. Unter dem fiesen "Gelächter bitterer Verzweiflung" die gesamte verfügbare Restkraft zusammennehmen und spontane Bewegungsskizzen in den Raum zeichnen… – etwas wie Offenheit herstellen…<br />
<br />
*<br />
<br />
<i>Ferne Stimme.</i> – „Ich lauschte ihr, dann fürchtete ich, sie nicht mehr zu vernehmen, die zu mir spricht oder mit sich…“ – <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Yves_Bonnefoy" Target="_blank">Yves Bonnefoy</a> hat diese Stimme, von der sich kaum sagen lässt, ob sie aus dem tiefsten Inneren oder aus weitester Ferne kommt in 'Die gebogenen Planken' (Les planches courbes) als kindliche Kraft und unwillkürlichen Rückgriff auf ein erstes "Umfangen der Welt" gezeigt. Vielleicht ist sie auch nur das Feuer, das in den Augen lodert und das sich nicht durch widrige äußere Umstände abdämpfen lassen will.<br />
<br />
Karen Van Dycks Anthologie schärft das Sensorium für leise Gegenkräfte, Gegenentwürfe, die sich in diesen kleinen poetisch-häretischen Verdichtungen aus Sprache manifestieren. Die Beispiele aus der Anthologie sind Kraftspeicher, die ihre Potenziale blitzartig auf die Empfänger übertragen. Aus ihnen hört man die dichterischen Vorfahren sprechen – von <a href="http://www.ancient.eu/Sappho_of_Lesbos/" Target="_blank">Sappho</a> und Alkaios über <a href="http://www.cavafy.com/" Target="_blank">Konstantinos Kavàfis</a> (Cavafy) bis zu <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Jenny_Mastoraki" Target="_blank">Jenny Mastoraki</a> –, deren je eigener Ton sich mit den Sprechweisen und Geräuschen der wahnwitzigen Krisenwelt des 21. Jahrhunderts vermischt. <br />
<br />
Dichtkunst ist immer international. Sie kann nicht anders. Die territoriale Logik bleibt ihr zwangsläufig fremd. Sie ist Rhythmus, <i>groove</i>, der sich nicht an künstlich gezogene Grenzen hält. Die Gegensätze zwischen nah/fern, fremdartig/vertraut etc. hat sie seit jeher unterlaufen. Wer sich mit ihr konfrontiert, macht eine eigentümliche Erfahrung: Menschen in unmittelbarer Nähe, die denselben Reisepass in der Jackentasche tragen und einen Teil ihrer Informationen aus denselben regionalen Medien beziehen, lösen mitunter nur noch Befremden oder ungläubiges Staunen aus. Aber es gibt eben auch diese anderen, zum Teil längst verstorbenen Geister, die einem über raumzeitliche Distanzen hinweg Feuer geben.<br />
<br />
Europa ist neu zu erfinden, daran führt kein Weg vorbei. Dieses andere Europa zeichnet sich vorläufig nur in vagen Umrissen ab. Die junge griechisch-europäische Lyrik lässt es diskret anklingen… <br />
<br />
<i><font size="-2">Bernhard Kellner</font></i><br />
<br />
*<br />
<br />
<a href="https://www.penguin.co.uk/books/292028/austerity-measures/"><img width="431" alt="Griva_Ants_Anfang" title="" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Griva_Ants_Anfang.jpg" height="500" /></a>
</p><center>(…)</center>
*<br />
<br />
<font size="-2"><br />
<i>Literatur</i><br />
<br />
Karen Van Dyck, <i></i><a href="https://www.penguin.co.uk/books/292028/austerity-measures/" Target="_blank">Austerity Measures: The New Greek Poetry</a>, London: Penguin Books, 2016.<br />
<br />
Anna Griva, <i></i><a href="http://www.poiein.gr/archives/32431/index.html" Target="_blank">Έτσι είναι τα πουλιά / So Are The Birds. Gedichte</a>; aus dem Griechischen von Yannis Goumas, Athen: Gabrielides, 2015.<br />
<br />
Yves Bonnefoy, <i>Die ferne Stimme</i> in: <i></i><a href="https://www.klett-cotta.de/buch/Gegenwartsliteratur/Die_gebogenen_Planken/5317" Target="_blank">Die gebogenen Planken. Gedichte</a>; aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Stuttgart: Klett-Cotta, 2004.<br />
<br />
Christos Ikonomou, <i></i><a href="http://www.chbeck.de/Ikonomou-Warte-nur-passiert/productview.aspx?product=11513448" Target="_blank">Warte nur, es passiert schon was. Erzählungen aus dem heutigen Griechenland</a>; aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand, München: C.H. Beck, 2013.<br />
<br />
Constantin Cavàfis, <i></i><a href="https://aiora.gr/cavafy_france/?lang=fr" Target="_blank">Choix de poèmes</a>, traduit par <a href="http://www.volkovitch.com/" Target="_blank">Michel Volkovitch</a>; Athènes: Aiora, 2015.</font>
Fundsteller
Copyright © 2016 Fundsteller
2016-05-16T17:52:00Z
-
LEBENDIGKEITEN
https://fundstellen.twoday.net/stories/lebendigkeiten/
Bis um ein Uhr früh, heißt es, habe man in der Vollmondnacht bei Kanzlerin Merkel in Berlin über das weitere Schicksal Griechenlands diskutiert. Als erster sei François Hollande aufgebrochen, am längsten geblieben Christine Lagarde. Es hat schon etwas Befremdliches, wenn man zur selben Zeit mitten in Athen am Omonia-Platz sitzt und die neuzeitlichen Schicksalsgötter der Brüsseler Gruppe vor seinem inneren Auge vorüberziehen lässt: Mario Draghi, Jean-Claude Juncker und wie sie alle heißen… – das Europa der Institutionen. <br />
<br />
Die Leute am Omonia-Platz haben nicht die Zeit, den nächsten Richterspruch aus Berlin abzuwarten. Die Druckverhältnisse sind enorm. Sogar die Tauben sind hier schlanker als andernorts. Die Bausubstanz verfällt, ehemals belebte Passagen bergen nur noch leere Geschäftslokale aber bieten den Obdachlosen Schutz vor Sonne und Regen. Man versucht, aus schlechten Bedingungen das Beste zu machen. Die Menschen üben sich in der Kunst des Überlebens und verstehen es, der sich ausbreitenden Wüste etwas wie Lebenssaft oder sogar Lebensqualität abzuringen… – das Europa der alltäglichen Schadensbegrenzung. <br />
<br />
Die gesamte Stadt ist von einer Dynamik (<i>gr.</i> dynamis: 'Kraft oder Vermögen, eine Veränderung herbeizuführen') erfüllt, die sich ein Big Player in Brüssel oder Berlin nicht einmal in Ansätzen vorstellen kann. Dafür fehlt ihm naturgemäß der Sinn. Und war es nicht genau diese Rest-Lebendigkeit, die den Griechen im medialen Dauer-Bashing vorgeworfen wurde? – „Werdet endlich wie Deutsche!“ Sie sind es, den Göttinnen und Göttern sei Dank, nicht geworden.<br />
<br />
Ein paar Schritte in Richtung Nordosten befindet sich Exarchia, das interkulturelle Kraftzentrum der Stadt, ein paar Schritte in Richtung Süden liegt der Syntagma-Platz mit dem Regierungsgebäude; ein paar Meter weiter gerät man bereits in den Sog der Akropolis. An jedem Standort stellt sich dasselbe Gefühl ein: Alles hier möchte blühen aber stößt auf ein Hindernis. <br />
<br />
In Berlin wird indessen die große Machtgeste vollzogen. Es gehe um viel, sagt man, bis Freitag müsse Griechenland dreihundert Millionen Euro an den Internationalen Währungsfond (IWF) überwiesen haben; eine Summe die man hier gut gebrauchen könnte, z. B. für soziale oder sozialmedizinische Maßnahmen. Parallel dazu erlebt man in Athen diese unglaubliche Fülle an kleinen, erfinderischen, liebenswürdigen, hilfsbereiten oder witzigen Gesten, die auf bitter-ironische Art verdeutlichen, wie weit sich die Menschen Europas von den Institutionen (oder umgekehrt) entfernt haben. <br />
<br />
Athen wird sich nicht unterkriegen lassen. Das Banken-Imperium kann die Lage weiter verschlimmern, zu Fall bringen wird es die Stadt nicht. (Gemäß den Forderungen der Eurogruppe und des IWF müssten neben dem Verkauf oder der Privatisierung der vorhandenen Infrastruktur auch kleine Pensionen weiter geschrumpft werden.) Die europäischen Erbsenzähler sind mächtig, ob sie auch der angewandten Weisheit der <a href="http://de.wikipedia.org/wiki/Metis_%28Mythologie%29" Target="_blank">Göttin Metis</a> gewachsen sind, wird sich erst zeigen. <br />
<br />
Europäischer als man es hier ist, kann man nicht sein. Aber möglicherweise handelt es sich um ein anderes Europa als es die Repräsentanten der Brüsseler Gruppe vorsehen. Dieses andere, tatsächlich offene, improvisierende, im ursprünglichen Sinn demokratische und in tausend Kooperationen sich entfaltende Europa kann nicht mehr erstickt werden…<br />
<br />
*<br />
<br />
Ein Kompromiss, heißt es, sei in Sicht. Wenn die Information stimmt, wird er nicht nur Griechenland „retten“, sondern auch die Europäische Union. Noch gilt Griechenland als das desolate Haus, für dessen gründliche Sanierung das Geld fehlt. Aber je länger der Schuldenstreit anhält, desto sichtbarer werden auch die Planungsfehler, Baumängel und Risse am 'Haus Europa'…
Fundsteller
Copyright © 2015 Fundsteller
2015-06-03T23:16:00Z
-
SONDERFÄLLE
https://fundstellen.twoday.net/stories/sondererscheinungen/
<p>
</p><p>
Caligaris. <a href="http://pointn.free.fr/doc/introduction.html" Target="_blank">Nicole Caligaris</a>, geboren 1959 in Nizza, Schriftstellerin, als solche schwer einzuordnen, poetisch hochgradig unberechenbar, eine Sondererscheinung innerhalb der französischen Gegenwartsliteratur. Leider wurde bislang keines ihrer Bücher ins Deutsche übersetzt, aber ich gehe davon aus, dass sich das bald ändern wird. Vier Caligaris-Bände liegen neben mir am Schreibtisch, ein fünfter befindet sich am Postweg.<br />
<br />
Zwei davon möchte ich näher vorstellen: Der erste heißt <i>Les chaussures, le drapeau et les putains</i> – <i>Die Schuhe, die Flagge und die Huren</i>. Der kleine, kaum siebzig Seiten lange Essay erschien 2003. Zwölf Jahre danach entfaltet er erstaunliche Aktualität. Es ist ein einprägsames Buch zum Thema Arbeit. Der zweite, <i>Le Paradis entre les jambes</i> – <i>Das Paradies zwischen den Beinen</i>, erschienen 2013, ist eine denkbar beunruhigende autobiographische Abhandlung zum Thema Kannibalismus. <br />
<br />
Dazwischen publizierte Caligaris mehrere Romane. Einer von ihnen trägt den Titel <i>Okosténie</i> (2008). Das Wort geht auf den serbischen Schriftsteller <a href="http://www.christianbourgois-editeur.com/fiche-auteur.php?Id=89" Target="_blank">Miroslav Popovic</a> (1926-1985) zurück, der im ehemaligen Jugoslawien Marschall Titos Säuberungsaktionen zum Opfer gefallen und mehrere Jahre in Gefängnissen interniert war. Okosténie bezeichnet den lethargischen Zustand, in den das Folteropfer während der Tortur verfällt.<br />
<br />
<i>Arbeit - Folter - Kannibalismus.</i> Möglicherweise eignen sich diese drei Worte bereits als erste Charakterisierung von Caligaris Werk, vorausgesetzt man denkt dabei nicht an ein den Gesetzen des Buchmarkts geschuldetes Kalkül – <i>cruelty sells</i> – oder an trivialen Voyeurismus. Caligaris Themen erscheinen groß und gnadenlos, sie zielen auf Sachverhalte, die in unserer Lebenswelt fest verankert und trotzdem schwer zu fassen sind. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Freiheit und Behutsamkeit die Autorin sich durch die Kreise der Hölle bewegt. <br />
<br />
Behelfsweise könnte man Caligaris Werke als poetische Phänomenologien betrachten. Entlang ihrer Prosa wird das Alltägliche fragwürdig und das Fremdartige erstaunlich greifbar. Jedes ihrer Bücher scheint einer doppelten Intention zu folgen, einer offensichtlichen, die sich meist schon im Titel zu erkennen gibt, und einer verborgenen, die sich dem Leser erst allmählich erschließt. Das zwischen den Zeilen Gesagte gewinnt seine ganz eigene Konsistenz. Leserin und Leser haben die Wahl, ob sie Caligaris' Prosa lieber an den Oberflächen oder entlang der abgeschatteten Rückseiten folgen möchten.<br />
<br />
Mir haben sich ihre Bücher als schaurig-schöne Landschaften ins Gedächtnis eingeprägt. Arbeits-, Folter-, Kannibalismus-Landschaft. In manchen Passagen bedauerte ich, nicht rechtzeitig die Straßenseite gewechselt zu haben, unmittelbar darauf folgten die Momente, in denen ich froh war, es nicht getan zu haben. Es waren Leseereignisse, deren anhaltende Wirkung durch das bloße Weglegen des Buches nicht gestoppt werden konnte. <br />
<br />
Ich nenne es den Caligaris-Effekt: Diese Texträume durchstreift man nicht nur einmal, sondern es zieht einen – nicht unähnlich dem Verbrecher, von dem es heißt, er kehre zwangsläufig zum Ort seiner Tat zurück – immer wieder hinein. Es gibt dort etwas, das die Grausamkeit, den Skandal, das absolut Uneingestehbare unserer Epoche nicht nur auf den Punkt, sondern zum Vibrieren, zum Schwingen oder Tanzen bringt. Diesem ominösen <i>Etwas</i> möchte ich ein Stück weit folgen. <br />
<br />
*<br />
<br />
<i>Die Schuhe, die Flagge und die Huren</i><br />
<br />
<i>Was ist Arbeit?</i> – An abstrakten Definitionen mangelt es nicht. Die Physik definiert sie als Produkt einer Kraft <i>k</i>, die entlang der Wegstrecke<i> s </i>gegen einen vorhandenen Widerstand wirkt. Die Philosophie begriff sie bis ins 19. Jahrhundert hinein als Gegensatz zur Muße - also Mühsal, Plage. Im heutigen Verständnis ist sie der zielgerichtete Einsatz körperlicher und geistiger Kräfte zur Befriedigung von (primären, sekundären, tertiären…) Bedürfnissen. <br />
<br />
Was mit Arbeit zu tun hat, ist meist konkret: vom Bewerbungsgespräch über Druckverhältnisse, Erfolgserlebnisse, Gehaltsvorstellungen bis hin zur kollektivvertraglichen Regelung, dem Konkurrenzkampf oder der Kündigung. Zum Thema Arbeit hat jeder Mensch etwas beizutragen, jede Lebenszeit ist eine mehr oder minder geglückte Abfolge von Arbeitserfahrungen. <br />
<br />
Caligaris führt die sich über zweieinhalb Jahrtausende spannende Abstraktion und die äußerste Konkretion von Arbeit auf engstem Raum zusammen. Ihre poetische Versuchsanordnung beginnt mit einem Verweis auf Hannah Arendt, in deren Hauptwerk <i>Vita activa oder Vom tätigen Leben</i> (1958) drei Grundtätigkeiten des menschliche Lebens bezeichnet werden: Arbeiten - Herstellen - Handeln.<br />
Arbeit bezeichnet darin den Zwang zur Erhaltung des Lebens, dem der Mensch von seiner Geburt bis zum Tod unterliegt; sofern sie dem Fortbestand der Gattung dient, ist sie nicht ausschließlich dem Menschen vorbehalten - Figur des <i>animal laborans</i>. Herstellen meint die Produktion dauerhafter Dinge, die in der Folge das Erscheinungsbild unserer Welt prägen - Wirkungsmacht des <i>homo faber</i>. Handeln und Sprechen bezeichnen das Vermögen, den Raum zwischen den Menschen fruchtbringend zu bespielen: Interaktion, Kommunikation, Hervorbringung von Öffentlichkeit: „Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart.“ (Hannah Arendt)<br />
<br />
In welches Verhältnis diese Grundtätigkeiten zueinander treten, wäre für jede Gesellschaftsform und Epoche eigens zu bestimmen. Der antike griechische Stadtstaat hatte andere Vorstellungen bezüglich Arbeit, Herstellen, Handeln als die christliche dominierte Welt an der Schwelle zur Neuzeit. Was die modernen Industriegesellschaften praktizieren, bedeutet für Arendt den Sieg des <i>animal laborans</i>: „In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in einen Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht.“ <br />
<br />
In Caligaris‘ Buch werden Arendts Thesen zum Rohmaterial einer Komposition: Variationen über ein Thesenkonglomerat. Die aktuelle Relation von <i>animal laborans</i>, <i>homo faber</i> und der Möglichkeit zur gesellschaftlicher Teilhabe werden zum Klingen und zwischenzeitlich - wie im richtigen Leben - zum Schweigen gebracht. <br />
<br />
Die Autorin kennt die vielfältigen Schrecken, die durch Arbeit verursacht werden: den Schrecken derer, die ihr geduldig nachgehen und dabei nicht mehr zum Denken und Atmen kommen; den Schrecken derer, die keine Arbeit haben und die Möglichkeit ihrer Versklavung überhaupt erst suchen und finden müssen; den Schrecken derer, die zwar einer Arbeit nachgehen, beispielsweise jener der Schriftstellerin, sie aber täglich neu legitimieren müssen. <br />
<br />
„Mit den letzten Ausdünstungen des Wohlstands sind auch die Sternbilder glücklicher Arbeit verschwunden. Arbeiten heißt leiden, man ist krank – mit oder ohne Arbeit. Die Qual ist unsere Lebensart geworden: die Bedingtheit des modernen Menschen.“ (S.7)<br />
<br />
<i>Arbeit: unsere Angst</i><br />
<br />
Zwei Gottheiten assistieren Caligaris bei der Herstellung ihres Klangkörpers. Bezeichnenderweise stammen beide aus Griechenland. Die erste kennt man aus der antiken Mythologie. Es ist Sisyphus, laut Homer „der Schlaueste unter den Männern“, der aber, seit er den Zorn der Götter auf sich gezogen hat, dazu verurteilt ist, einen riesigen Stein auf einen Hügel zu schieben, und zwar bis zu dem Punkt, an dem er ihm entgleitet und wieder hinunterrollt, sodass das grausame Spiel von neuem beginnt; das an Folter gemahnende Bild des <i>animal laborans</i>. <br />
<br />
Die zweite Quasi-Gottheit stammt aus <a href="http://de.wikipedia.org/wiki/Primo_Levi" Target="_blank">Primo Levys</a> Bericht <i>La tregua</i> (1946; <i>Die Atempause</i>), in dem er seine Befreiung aus dem KZ Auschwitz und die darauf folgende Irrfahrt durch das verwundete Europa anno 1945 beschreibt. Eine der einprägsamsten Gestalten aus diesem Bericht ist Mordo Nahum, der Grieche: er ist die Fleisch gewordene instrumentelle Vernunft, Nutzdenken in Reinkultur, das Urbild der wandelnden Ich-Aktie, zu der wir alle mutiert sind; ein Zerrbild des <i>homo faber</i>. <br />
<br />
<i>Mordio Nahum, was für ein Name! </i><br />
<br />
Im Gegensatz zu den anderen aus dem KZ Befreiten trägt Mordo blank geputzte Schuhe: „Wer keine Schuhe hat, ist ein Dummkopf.“ Während die anderen nur besitzen, was sie unmittelbar am Leib tragen, schleppt er einen prall gefüllten Sack, d. h. nein, er schleppt ihn nicht selbst, sondern lässt ihn schleppen. Während die ehemaligen Lagerinsassen sich ungläubig fragen, wie es zuging, dass sie dem Wahnsinn entrinnen konnten, bleibt Mordo Nahum kühl. In der Krankenstation des Lagers sucht und findet er brauchbare Dinge, die ihm etwas wie Zukunft garantieren. Es ist immer gut, etwas zum Tauschen bei sich zu haben. <br />
<br />
„Die metallische und vollendete Moral Mordo Nahums ist die Moral eines Sprösslings der Katastrophe, eine Moral nach dem vollzogenen Bruch mit Gott. Moral der Stärke: sogar die Idee der Dienstleistung ist dort ein Skandal, verursacht Übelkeit, Erniedrigung. Es ist die Moral von Menschen, die weder Sklaven noch Schutzbefohlene sind, die sich, jeglicher Kontrolle enthoben, in der Stunde der Prüfung allein zurechtfinden. Mordo Nahum: die Verachtung jeder Arbeit ohne Initiative und ohne Risiko. <i>Für</i> alles, woraus er persönlichen Nutzen ziehen kann, <i>gegen</i> alles, was ihn in seiner persönlichen Freiheit einschränkt: das ist Mordo Nahum.“ (S.14)<br />
<br />
Dreimal kreuzt er den Weg Primo Levys durch das zerstörte Europa, dreimal erscheint er auch in Caligaris‘ Text. Nach dem Erlebnis mit den blank geputzten Schuhen sieht man ihn eine Fahne schwenken; es ist die griechische, aber darauf kommt es ihm nicht an. Mordo Nahum hat Universelles im Sinn. Es ist die Flagge anders gearteter Expansionsgelüste, das weithin sichtbare Zeichen einer kaufmännisch-kriegerischen Ethik: „Es ist immer Krieg; und die kurz nach dem Krieg geschwungene Flagge kündigt die Machtergreifung einer Gesellschaft an, in der die Arbeit der Ersatz für die Eroberung ist.“ (S.37)<br />
<br />
„Mach Profit mit allen Mitteln…“, rezitiert Mordo Nahum sein profanes Glaubensbekenntnis. „Benutze deinen Nächsten für dich selbst. Handle mit allem, was dir in die Hände kommt, Frauen eingeschlossen“. Bei seinem dritten Auftauchen, hat er sich zum erfolgreichen Geschäftsmann gemausert. Sein inmitten des Chaos improvisiertes Bordell floriert. Attraktive Frauen sind in Zeiten des Hungers leicht zu bekommen, die Nachfrage ist nach den Jahren der Entbehrung groß. <br />
<br />
<i>Wir sind Sisyphus</i><br />
<br />
„Wir existieren in der Unterwerfung unter die Wirklichkeit in Form von Zeitplänen, täglichen Pflichten, Stillhalteabkommen, Geldsummen, die zu verdienen und auszugeben und zu verdienen sind… unser Leben verläuft in Kreisform, unser Leben nimmt das Gewicht einer Masse auf sich, die wir anschieben. Unsere Erschöpfung… <br />
Unsere Erschöpfung geht soweit, dass uns der Antrieb zum Sprechen fehlt. Wir halten uns in den Innenräumen unserer selbst auf, in der Finsternis eines Raumes ohne Himmel und einer Zeit ohne Tiefe…“ (S.53)<br />
<br />
<i>Changierende Perspektiven:</i> Hier Mordo Nahum, der Erfolgreiche, der seine Aufmerksamkeit an kurzer Leine führt und seinen Blick auf ökonomischen Vorteil dressiert hat; dort die im Buchtitel erwähnten Huren, die für Geld ihre Körper für die Herstellung flüchtiger Befriedigungen einsetzen. Zusammengenommen ergeben sie das Bild der <i>conditio humana</i> nach 1945. Wer ist in diesem Arrangement die tragischere Gestalt? Mordo Nahum in seiner spezifischen Blindheit oder Sisyphus bzw. die Prostituierten in ihrer unauflöslichen Ausgeliefertheit? <br />
<br />
Die Frage bleibt offen. Nicole Caligaris moralisiert nicht, sie interveniert. Sie vergegenwärtigt den Sachverhalt und setzt ihm eine offene poetische Form entgegen, die sich jeder Kategorisierung entzieht. Ein Essay ist <i>Les chaussures, le drapeau, les putains</i> nur, sofern man die Bezeichnung Essay im Wortsinn als Versuch auffasst. Eher handelt es sich um ein Gedicht in Prosa oder um einen Gesang, womöglich Höllengesang, in dem das Stoßen, Ächzen, Fluchen des Sisyphus in jedem Augenblick spürbar bleibt. <br />
<br />
Der Text hat etwas Theatralisches. Man kann ihn sich in bald lauter, bald leiser werdendem Flüsterton gesprochen vorstellen, z. B. aus dem Mund einer Person, die am Weg durch U-Bahn-Labyrinthe, Werkshallen oder Bürotrakte sämtliche Intensitätsgrade von Rage und Resignation durchläuft. Es ist ein Sprechgesang, aus dem die Leser wohl oder übel ihr je eigenes Stoßen-Ächzen-Fluchen heraushören. Leserin und Leser beschränken sich nicht mehr aufs Lesen, unwillkürlich stimmen sie in den Gesang ein…<br />
<br />
Aber da ist noch etwas: Caligaris ruft in ihrem Buch eine Reihe von Dichtern in den Zeugenstand, deren Wortspenden den Text bestirnen. Während man im Normalfall ein Übermaß an Zitaten für unlauteren Wettbewerb hält, werden hier die poetischen Stellungnahmen der Dichterkollegen auf eine Weise in den markant rhythmisierten Textfluss eingefügt, dass sie wie Strophen wirken. Neben Homer und Dante kommen <a href="http://www.suhrkamp.de/buecher/hund_beichte_am_mittag-paul_nizon_40997.html" Target="_blank">Paul Nizon</a>, Victor Segalen, Robert Linhart, Fernando Pessoa, Henry Thomas, Albert Camus, Roger Caillois, Simone Weil, Erri de Luca, C. Wright Mills und André Breton zu Wort. <br />
<br />
Daraus ergibt sich etwas wie Öffentlichkeit. Die Textpassagen fungieren als Fensteröffnungen, die den finsteren Innenraum des Sisyphus-Monologs mit einem vielstimmigen Außen in Verbindung bringen. Hier setzt das verloren geglaubte Handeln-Sprechen-Partizipieren wieder ein. Der Antrieb, sich auszutauschen kehrt zurück, wenngleich nur für einen Augenblick: <br />
<br />
Es ist der Augenblick des Stillstands, der Totpunkt, bevor der Stein wieder talwärts rollt und Sisyphus neuerlich in die Ebene hinabsteigt. Es ist der kurze Moment, der ihm bleibt, um die Götter, die ihn in die missliche Lage gebracht haben, zu verdammen. Und es ist zugleich der Moment der Literatur, der poetische Augenblick, wenn unvermittelt eine Gegenwelt aufblitzt und Wirkung entfacht. In diese Leerstelle hinein lässt sich die ebenso unpassende wie wirkungsmächtige Frage nach den Grund legenden menschlichen Ambitionen stellen.<br />
<br />
<i>Die Literatur hat nur ungehörige Fragen</i><br />
<br />
An dieser Stelle öffnet sich der doppelte Boden von Caligaris' Prosa. Zur Frage <i>Was ist Arbeit?</i> gesellt sich eine zweite: <i>Was kann Literatur?</i> In seiner labyrinthischen Unterkellerung gibt sich das Buch als häretisch-poetologische Abhandlung zu erkennen… <br />
<br />
Durch die poetische Optik betrachtet, scheint es, dass Sisyphus und die Huren es doch ein bisschen besser erwischt haben als Mordo Nahum mit seinem charakteristischen Tunnelblick, der zu keiner Frage mehr fähig ist, die über das Rentabilitätskalkül und die Gewinnmaximierung hinausgeht. <br />
<br />
*<br />
<br />
Als Nicole Caligaris‘ Buch im März 2003 erschien, war von 'Krise' noch wenig zu hören. Die Lehmann Brothers waren erst fünf Jahre später insolvent, die Arbeitslosenzahlen waren vergleichsweise niedrig und die Illusionen intakt; die Textilarbeiterinnen von Bangladesh, die bunten Glamour für europäische Laufstege herstellten, waren noch nicht unter Trümmern begraben. <br />
<br />
Zwölf Jahre nach dem Erscheinen von <i>Les chaussures, le drapeau et les putains </i>werden in Griechenland, das in dem Buch so stark präsent ist, millionenfach Gesänge angestimmt, die jenem aus Caligaris‘ Buch stark ähneln.
</p><p>
</p><p>
<i><font size="-2">Bernhard Kellner</font></i><br />
<br />
<br />
* Nicole Caligaris, <i></i><a href="http://www.gallimard.fr/Catalogue/GALLIMARD/Verticales/Minimales-Verticales/Les-chaussures-le-drapeau-les-putains" Target="_blank">Les chaussures, le drapeau et les putains</a>, Paris: Éditions Verticales / Le Seuil, 2003.<br />
* Hannah Arendt, <i>Vita activa oder von tätigen Leben</i>, München: Piper Verlag, 1967.<br />
* Primo Levy, <i>Die Atempause</i>, München: Carl Hanser Verlag, 1991.<br />
</p><p>
(La Tregua/<a href="https://www.youtube.com/watch?v=Yp61EKj-3Aw" Target="_blank">The Truce</a> wurde 1997 von Francesco Rosi verfilmt.)<br />
<br />
<img width="300" alt="Caligaris_Titel" title="" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Caligaris_Titel.jpg" height="192" /></p>
Fundsteller
Copyright © 2015 Fundsteller
2015-01-22T18:45:00Z
-
SCHLÜSSELTEXTE (1)
https://fundstellen.twoday.net/stories/schluesseltexte/
<img width="400" alt="BAUDELAIRE_Schiessplatz_4" title="" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/BAUDELAIRE_Schiessplatz_4.jpg" height="683" />
<p>
</p><p>
</p><p>
</p><p>
Charles Baudelaire, <i>Le Spleen de Paris, XLV Schiessplatz und Friedhof</i> in: <i>C. B., Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, Band 8</i>; herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Darmstadt 1985.</p>
Fundsteller
Copyright © 2014 Fundsteller
2014-11-17T23:10:00Z
-
ZWISCHENRÄUME
https://fundstellen.twoday.net/stories/zwischenraeume/
<i>Yoko Tawadas Einführung in die Kunst der Leerstelle<br />
</i><br />
<img width="461" alt="TAWADA_Ich-liebe-dich" title="" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/TAWADA_Ich-liebe-dich.jpg" height="124" /><br />
<br />
Yoko Tawada lesen oder hören bedeutet vor allem eines: sich mit einer besonderen Wahrnehmungsdisposition vertraut machen – mit dem Sehen, Sprechen, Agieren aus dem Zwischenraum.<br />
<br />
<a href="http://yokotawada.de/" Target="_blank">Yoko Tawada</a> ist Japanerin und Deutsche, zugleich ist sie beides nicht, nicht mehr oder noch nicht, sondern etwas Drittes, das sich aus den jeweiligen Mischverhältnissen augenblicklich ergibt. Genau genommen handelt es sich weniger um ein Sein als um unentwegtes Werden. Seit sie 1982, nach ihrem Literaturstudium, aus Tokyo nach Hamburg kam, wird sie jeden Tag aufs Neue Japanerin und/oder Deutsche, Asiatin und/oder Europäerin.<br />
<br />
„Ich kann nicht davon ausgehen, dass mein Bewusstsein abgegrenzt ist von allem anderen. Ich weiß oft nicht, ob ich denke oder ob mein Bleistift denkt. Was ein Hund denkt, der vor mir sitzt, überträgt sich auf meine Gedanken und ich kann nicht mehr sagen, ob das sein Denken ist oder meines.“ (<i>Im Meer der Mehrsprachigkeit</i>, NZZ vom 24.12.12)<br />
<br />
<i>Befremden, Selbstbefremdung, befremdeter Raum… </i> – Die Europa-Erfahrung Yoko Tawadas erinnert an den Ausnahmezustand, den Roland Barthes in seinem Buch <i>Im Reich der Zeichen</i> über seine Japan-Erfahrung geschildert hat: die rauschende Masse einer unbekannten Sprache als „delikate Abschirmung“; das unentwegte Nicht-Verstehen, Falsch-Verstehen, Neu-Verstehen als Taumel oder künstliche Leere, die nur für ihn selbst existiert: „Ich lebe in einem Zwischenraum, der frei von jeder vollen Bedeutung ist.“ <br />
<br />
<i>Tawada</i>: „Keine Tradition zu haben, klingt in Europa negativ oder unglaubwürdig, da ,die Tradition und die Moderne‘ dort zu einem der wichtigsten Denkschemen geworden ist. Dabei wird das Wort ,Moderne‘ oft als Synonym für die westliche Moderne verwendet. Die meisten Fernsehsendungen und Zeitungsartikel behaupten in ihren Beiträgen nichts anderes als den ,Verlust der Tradition durch die Verwestlichung‘. Es spielt keine Rolle, ob es um Nepal, Papua-Neuguinea, Kenia oder Japan geht. Das Motiv der Tradition – oder genauer gesagt ihr Verlust – beschäftigt Europa so sehr, dass man nichts anderes mehr tut, als die außereuropäische Welt zu bemitleiden, weil dort die Tradition verloren gegangen sein soll. Auch ich habe mittlerweile Mitleid mit mir, weil auch meine Tradition verloren gegangen sein muss, die aber eventuell von Anfang an gar nicht existierte. (<i>Über die Zeit 5, Vergänglichkeit</i>, erschienen 2004 in der Zeitschrift <a href="http://www.wbw.ch" Target="*_blank'">Werk, Bauen + Wohnen</a>)<br />
<br />
<i>Frei von jeder „vollen“ Bedeutung</i> – Was tritt bei Tawada an die Stelle der Tradition? Eine besondere Art der Gewärtigkeit. Wo die gewohnten Konventionen und Regelwerke aussetzen, ist man gezwungen, die eigenen Aufmerksamkeiten neu zu erproben. Eingefahrene Blickmuster werden unwillkürlich hinterfragt und durchbrochen. Anstelle schwer wiegender Überzeugungen, die den Blick auf das unmittelbare Geschehen verstellen, treten hier kleine, mit schnellem Strich skizzierte Versuchsanordnungen.<br />
<br />
Mehr als vierzig Bücher hat Yoko Tawada bisher in Europa und in Japan veröffentlicht. Im deutschsprachigen Raum erschienen u. a. <i>Das Bad</i> (1989), <i>Ein Gast</i> (1993), <i>Wo Europa anfängt</i> (1991), <i>Überseezungen</i> (2002), <i>Das nackte Auge</i> (2004), <i>Der Schwager aus Bordeaux</i> (2004) und zuletzt <i>Abenteuer der deutschen Grammatik</i> (2010); in diesen Tagen erscheint beim Hamburger <a href="http://www.konkursbuch.com/html/tawada.html" Target="_blank">Konkursbuch Verlag</a> ihr jüngstes Buch <i>Etüden im Schnee</i>. <br />
<br />
Aus den Hohlräumen, die zwischen Prosa, Lyrik und Essay klaffen, generiert Tawada federleichte Sätze und überraschende poetische Formationen, die sich gut für U-Bahn-Fahrten und die gelegentlichen Betriebsstörungen, auf die man dabei gefasst sein muss, eignen. <br />
<br />
Die spezielle Weisheit hinter Tawadas poetischen Interventionen ist das <a href="http://www.columbia.edu/itc/ealac/V3613/ma/" Target="_blank">,ma‘</a>. Das japanische Wort für ,Raum‘ bezeichnet auch den <i>negative space</i>, die Leerstellen, Intervalle, die den Informationsfluss zwischen Dingen und Personen unterbrechen. Es zielt auf ein Bewusstsein des Raums als Zusammenspiel der Formen und des Formlosen. <br />
<br />
<i>Tawada: </i>„,Mu‘ heißt Nichts, ,mi‘ die Frucht oder der Körper, ,me‘ die Augen. Die Zeit, die man weder messen noch füllen kann, ist ein ,ma‘. ,Ma‘ kann auch Magie oder ein gefährlicher Geist bedeuten. Und gerade dieses Moment, das aus jeder Zeitordnung herausfällt, kann die interessanteste Zeit für die Poesie sein.“ (<i>Über die Zeit 7, Zwischenräume</i>)<br />
<br />
*<br />
<br />
Die Dichtkunst unterliegt keinem Effizienz-Imperativ. Sie evaluieren zu wollen, hieße ihre wesentlichste Qualität missverstehen. Yoko Tawada wird weiterhin auf ihre unverwechselbare Art agieren und Bücher schreiben, ihre Intention kann es nicht sein, der poetischen Äußerung einen gesellschaftlichen Nutzen abzuringen. <br />
<br />
Angesichts der gegenwärtigen geopolitischem Zuspitzungen erscheint es aber gar nicht mehr so absurd, auf das implizit Politische dieser Wahrnehmungsdisposition aus dem Zwischenraum zu verweisen. <br />
<br />
Der Zwischenraum ist ein Wissen. Er ist beides: geschärfte Aufmerksamkeit für die „Zwischenwelt“, in der die Blicke sich kreuzen und die Wahrnehmungen sich überschneiden, und ein hoch entwickelter Sinn für die alles umgebende Leere, für das weiße Blatt, auf dem sich die Begegnungen abspielen. Der Zwischenraum ist, wenn man so will, eine Kulturtechnik. <br />
<br />
Tawadas mit 'ma' vertrauter Blick ist immer schon mehrdimensional. Müßte man ihm eine Körperhaltung zuordnen, wäre es vielleicht die einer Katze, die den Bewegungsablauf auf Tieflage umstellt, nicht um zu jagen, sondern um die Gefahr besser einschätzen zu können und sprungbereit zu sein. <br />
<br />
Die besondere Dynamik dieses Seh- und Bewegungsverhaltens aus dem Zwischenraum wird in dem oben abgebildeten Satz aus dem <i>Abenteuer der deutschen Grammatik</i> spürbar:<br />
<br />
Ein zentraler deutscher Satz wird ins Japanische übersetzt und von dort in Spiegelübersetzung in die Herkunftssprache zurückgerufen: "Was mich betrifft, bist du begehrenswürdig." – hier der äußerste Rückbezug ("was mich betrifft"), dort die unmissverständliche Bezugnahme ("du bist"); dazwischen öffnet sich ein weites Feld, in dem viel Begehren und Würde Platz finden…<br />
<br />
*<br />
<br />
Am 3. März um 19.00 Uhr ist Yoko Tawada bei <a href="http://www.steinbrenerdempf.com" Target="_blank">Steinbrener/Dempf</a> zu Gast. Die Lesung findet im Rahmen des Eröffnungsfests zu <a href="http://www.manuelamark.com" Target="_blank">Manuela Marks</a> Ausstellung <i></i><a href="http://esel.at/termin/69757" Target="_blank">„möglicherweise hier“</a> statt, die bis 20. März – von der Straßenseite her – zu sehen sein wird. (Kuratorin: <a href="http://www.sectiona.at/" Target="_blank">section/a</a>, Katharina Boesch): <i>Steinbrener/Dempf, Glockengasse 6, 1020 Wien</i> <br />
<br />
<br />
*) Abbildung: Yoko Tawada, aus „Abenteuer der deutschen Grammatik“, © konkursbuch Verlag Claudia Gehrke
Fundsteller
Copyright © 2014 Fundsteller
2014-02-24T22:42:00Z
-
FLÜCHTLINGSPROTESTE
https://fundstellen.twoday.net/stories/refugees/
<i>Die Flüchtlinge in der Wiener Votivkirche haben ihren Hungerstreik beendet. Die zivilgesellschaftliche Grundsatzdebatte, die sie damit entfacht haben, steht erst an ihrem Anfang…</i> <br />
<br />
*<br />
<br />
Das verstörendste Wort, das in den Wintermonaten durch die Stadt und die Medien geisterte, lautete <a href="http://de.wikipedia.org/wiki/Hungerstreik"TARGET="_blank">Hungerstreik</a>. Nichts schien weniger in das trotz vielfältiger Krisenerscheinungen vor Wohlstand strotzende Wien zu passen als ein Hungerstreik. <br />
<br />
Der Hungerstreik übersteigt den Erfahrungshorizont der Bevölkerung. Auf demonstrative Verweigerung der Nahrungsaufnahme war hier in den letzten Jahrzehnten niemand angewiesen. Der Grad an Verzweiflung, der dieser „besonderen Form des passiven Widerstands, die den eigenen Organismus als Argument einsetzt“ vorausgeht, erscheint von hier aus kaum nachvollziehbar. Ein drastischeres Verfahren des Protests kann es nicht geben. <br />
<br />
Für einen großen Teil der Öffentlichkeit bedeutete der Flüchtlingsprotest doppeltes Befremden: Schon die Gestalt des Flüchtlings wird im tendenziell xenophoben Österreich als unangenehmes Hereinbrechen von Wirklichkeit in fragile Idyllen erfahren; der Flüchtling im Hungerstreik vervielfacht das Unbehagen und setzt enorme Aggressionspotenziale frei…<br />
<br />
*<br />
<br />
Wie es zum Hungerstreik der Flüchtlinge in der Wiener Votivkirche kam, ist bekannt; eine detaillierte Chronik der Ereignisse findet sich auf den Webseiten des <a href="http://refugeecampvienna.noblogs.org/timeline/"TARGET="_blank">RefugeeProtestCamps Vienna</a>. Hier nur die Eckdaten: <br />
<br />
Am 24. November 2012 brach eine Gruppe von Flüchtlingen zum 35 km langen Fußmarsch vom Flüchtlingslager Traiskirchen nach Wien auf. Es war ein feuchtkalter Sonntag, trotzdem trugen einige Leute nur Flipflops an nackten Füßen. Das Ziel der Manifestation war und ist es, auf die unerträgliche Situation der Asylsuchenden in Österreich aufmerksam zu machen. <br />
<br />
Die wichtigsten der sechs von den Refugee-Aktivisten formulierten <a href="http://refugeecampvienna.noblogs.org/demands/" TARGET="_blank">Forderungen</a> lauten: Grundversorgung für alle AsylwerberInnen, und zwar unabhängig von ihrem Rechtsstatus – <i>das Recht zu Überleben</i>; freie Wahl des Aufenthaltsortes – <i>das Recht auf freie Bewegung</i>; Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsinstitutionen – <i>das Recht tätig zu sein</i>; frei atmen, sich bewegen, arbeiten dürfen, allzu vermessen erscheint das nicht. <br />
<br />
In der Folge schlugen die Flüchtlinge im Sigmund-Freud-Park ein improvisiertes Zeltlager auf. Damit wurde in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt ein Stück österreichischer, europäischer und globaler Realität sichtbar, die sich normalerweise nur in kurz aufblitzenden Schlagzeilen über brennende Asylheime, gesunkene Flüchtlingsboote oder überfüllte Anhaltezentren zu erkennen gibt. <br />
<br />
Am 28. Dezember wurde das Camp <a href="http://refugeecampvienna.noblogs.org/post/2012/12/28/video-police-eviction-of-the-refugeeprotestcamp-vienna-today-at-4am-polizeiliche-raumung-des-refugeeprotestcamp-in-wien-heute-um-4-uhr/" TARGET="_blank">polizeilich geräumt</a>. Sigmund Freud, dem der Park seinen Namen verdankt, hätte sowohl als Wissenschaftler als auch als persönlich Exilierter viel zur Flüchtlings-Thematik und zu den Emotionen, die sie in manchen Teilen der Bevölkerung auslöst, zu sagen gehabt; und er hätte wohl auch die <a href="http://refugeecampvienna.noblogs.org/post/2013/02/14/polizei-evaluiert-sich-selbst-uberraschendes-ergebnis-brutale-raumung-des-protestcamps-korrekt/"TARGET="_blank">„Verhältnismäßigkeit“</a> der Räumung treffend analysiert. <br />
<br />
Am 22. Dezember trat ein Teil der Refugee-Aktivisten in Hungerstreik. Zunächst waren fünfundzwanzig, später vierzig Männer beteiligt, einige von ihnen wurden in der Zwischenzeit gemäß <a href="http://de.wikipedia.org/wiki/Verordnung_(EG)_Nr._343/2003_(Dublin_II)"TARGET="_blank">Dublin 2-Verordnung</a> nach Ungarn abgeschoben oder befinden sich in Schubhaft. Nach einer zehntägigen Unterbrechung – die Flüchtlinge unternahmen einen weiteren Versuch, mit Regierungsvertretern ins Gespräch zu kommen, fanden aber kein Gehör – wurde er am 1. Februar wieder aufgenommen. Das schaurige Drama nahm seinen Lauf: zerbrechliche, rasch verfallende Menschenkörper gegen die behäbig vor sich hin mäandernden Abläufe in der österreichischen und europäischen Bürokratie…<br />
<br />
*<br />
<br />
Es erscheint paradox: Um auf den fehlenden Ort in der Gesellschaft, der die Flüchtlinge – zumindest temporär – angehören, hinzuweisen, mussten sie ihre Körper durch Nahrungsentzug tendenziell zum Verschwinden bringen. Um gehört zu werden, blieb ihnen nur der Weg des sukzessiven Verstummens. <br />
<br />
Aber spiegelt sich nicht in diesem Paradox exakt die Ausgangslage der Flüchtlinge wider? <br />
<br />
Wie lebt ein Mensch, der nicht wahr sein oder tätig werden darf? Wie soll oder kann jemand leben, der von jedem persönlichen Wollen und jeder gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen ist? Wie existiert, wer unbestreitbar Bestandteil gegenwärtiger sozialer Realität ist, aber zugleich zu bedingungsloser Nicht-Sichtbarkeit verurteilt ist? Und was ließe sich den Vertretern einer Bevölkerungsgruppe raten, die als passive Verschubmasse behandelt wird und als solche eher der Ding- als der Menschenwelt angehört?<br />
<br />
Sofern man ,Nahrung‘ in einem weiteren Sinn auffasst und auch das Recht auf Arbeit, Bildung und freie Wahl des Aufenthaltsortes mit einschließt, ist sie den Flüchtlingen faktisch immer schon entzogen. Während alle Welt von Vernetzung spricht, sind sie immer schon aus dem Verkehr gezogen. <br />
<br />
Insofern erwies sich auch der gut gemeinte Vorschlag der Kirche, die Flüchtlinge im Souterrain des leer stehenden Servitenklosters unterzubringen, als problematisch. Damit wären die Flüchtlinge neuerlich in der Versenkung verschwunden. Es ging und geht ihnen schon auch darum, die Existenzbedingungen dieser weitgehend rechtlosen und zukunftslosen Bevölkerungsgruppe einer breiten Öffentlichkeit zu Bewusstsein zu bringen.<br />
<br />
*<br />
<br />
Die hungerstreikenden Flüchtlinge in der Votivkirche sind nicht gekommen, um den ÖsterreicherInnen etwas wegzunehmen, sondern haben ihnen etwas mitgebracht: den aktuellen und Fleisch gewordenen Zustandsbericht über die Gesellschaft, in der wir alle leben. Vor allem aber haben sie eine zivilgesellschaftliche Grundsatzdebatte entfacht:<br />
<br />
<i>Gibt es ein (humanitäres) Gesetz vor den Gesetzen?</i> <br />
<i>Gibt es eine andere Art der Beziehung zu Flüchtlingen als die im Zeichen gnadenloser Repression und populistischer Häme?</i> <br />
<i>Gibt es eine zivilgesellschaftliche Vernunft, die zu verhindern weiß, dass sich eine Klasse ausgestoßener, überall unerwünschter, bedingungslos ausbeutbarer, letztlich vogelfreier Menschen in Österreich und Europa herausbildet?</i> (…)<br />
<br />
Diese Fragen brauchten von den Refugee-Aktivisten nicht explizit gestellt zu werden, sie waren gestellt, schlagartig, durch ihr bloßes Erscheinen auf der politischen Bühne. <br />
<br />
Für die schlummernde Öffentlichkeit bedeutete es ein abruptes Erwachen und fortschreitende Polarisierung: <br />
<br />
Auf der einen Seite der zahlenmäßig kleinere Teil, der bereit ist, trotz aller kulturellen Verschiedenheit die eigene Existenz mit jener der Refugees in Relation zu setzen; auf der anderen Seite der zahlenmäßig größere Teil, der sich – worin eigentlich? – gestört fühlt und sich immer schon in einer besseren, gesicherteren, übergeordneten oder höherrangigen Position wähnt. (Freilich gibt es auch noch den zahlenmäßig größten, dritten Teil: jene Menschen, die bislang wenig Notiz von der Migrationsproblematik genommen oder sich nicht dazu geäußert haben.)<br />
<br />
Zum zahlenmäßig kleineren Teil gehören u. a. die UnterstützerInnen, die den Refugees mit wintertauglicher Kleidung aushalfen, sie mit blitzartig organisierten Sprachkursen unterstützten oder die Ereignisse rund um den Protest auf hohem technischen und fachlichen Niveau in Wort und Bild dokumentierten; dazu gehören AutorInnen und KünstlerInnen wie <a href="http://refugeecampvienna.noblogs.org/post/2013/01/12/11-1-susanne-scholl-verbringt-eine-nacht-in-der-votivkirche/"TARGET="_blank">Susanne Scholl</a>, Jean Ziegler, <a href="http://refugeecampvienna.noblogs.org/post/2013/01/14/video-peter-waterhouse-prominenter-gast-in-der-votivkirche-im-interview/"TARGET="_blank">Peter Waterhouse</a>, Paul Poet oder <a href="http://refugeecampvienna.noblogs.org/post/2013/01/24/solidarisch-schlafen-univ-prof-dr-marina-grzinic-in-der-votivkirche/"TARGET="_blank">Marina Grzinic</a>, die mehrere Tage und Nächte in der Votivkirche verbrachten und Gespräche mit den Flüchtlingen führten; dazu gehören WissenschaftlerInnen wie z. B. die Wiener Politikwissenschafterin <a href="http://inex.univie.ac.at/"TARGET="_blank">Sieglinde Rosenberger</a>, die das österreichische Asylwesen über mehrere Jahre beobachtet und analysiert hat und es zusammenfassend als „strukturelle Desintegration“ charakterisiert; dazu gehört das international renommierte <a href="http://bim.lbg.ac.at/" TARGET="_blank">Ludwig Boltzmann-Institut für Menschenrechte</a>, das die gängige Definition des Flüchtlings laut Genfer Konvention relativiert, insofern diese im Kontext der Nachkriegszeit entstand und dringend den heutigen Verhältnissen angepasst werden müsste; dazu gehören zwei etablierte politische Parteien, die die Forderungen der Flüchtlinge zumindest teilweise aufgegriffen haben; nicht zuletzt gehören tausende Menschen dazu, die an österreichischen oder internationalen Solidaritätskundgebungen teilnahmen und weiterhin daran teilnehmen werden. <br />
<br />
Zu dem anderen, zahlenmäßig größeren Teil, der willentlicher Ignoranz und Zynismus gern freien Lauf lässt, gehörten u. a. die <i>Früchtchen des Zorns</i>, die vor einigen Wochen zur <a href="http://www.youtube.com/watch?v=I2_YiNMs81g"TARGET="_blank">„Besetzung der Besetzung“</a> aufgerufen haben: Neun junge Recken hatten versucht, eine Eskalation in der Kirche zu provozieren, kapitulierten aber vor der stillen Autorität der hungerstreikenden Flüchtlinge. Wer unvermittelt Menschen wie Shajahan Khan, Muhammed Numan, Jahangir Mir oder <a href="http://refugeecampvienna.noblogs.org/post/2013/01/12/video-2-monate-fluchtlingsproteste-gesprach-mit-khan-adalat/"TARGET="_blank">Adalat Kahn</a> von Angesicht zu Angesicht gegenüber tritt, verstummt leicht vor der Ausdruckskraft der durch Flucht- und Leidenserfahrung gezeichneten Gesichter: „Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden.“ (<a href="http://www.levinas.sdsu.edu/"TARGET="_blank">Emmanuel Lévinas</a>), dies scheint für die Refugees in besonderem Maß zu gelten; zu dieser Gruppe gehören weiter die Verfasser der unzähligen menschenverachtenden Postings, die täglich in die Online-Ausgaben der österreichischen Tageszeitungen gepumpt werden und die zusammengenommen diese bedrohliche Sprechblase ergeben, die derzeit über der Wiener Votivkirche hängt und sie manchmal fast zu erdrücken scheint; nicht zuletzt gehören PolitikerInnen verschiedenster Färbung dazu, die im so genannten Superwahljahr mehr noch als sonst dem Populismus frönen und lieber dem tausendfach Gehörten folgen als dem Unerhörten oder leicht Überhörbaren. <br />
<br />
*<br />
<br />
Am 18. Februar beendeten die Refugees den Hungerstreik. Dazu hat nicht zuletzt der <a href="http://refugeecampvienna.noblogs.org/post/2013/02/14/nach-langem-schweigen-schreiben-des-bundesprasidenten-an-fluchtling-in-der-wiener-votivkirche/"TARGET="_blank">Antwortbrief des Bundespräsidenten</a> an die Flüchtlinge beigetragen, in dem er ihnen zwar keinerlei Hoffnung oder Zugeständnisse im Bezug auf ihre Forderungen machen konnte, der Manifestation aber große Anerkennung zollte: „Denn Menschen, die all das auf sich nehmen, was Sie und die von Ihnen erwähnten Personen auf sich nehmen, verdienen es, ernst genommen zu werden.“<br />
<br />
Nach dem Hungerstreik hat sich die Lage verschärft. Die Gegend um die Wiener Votivkirche ist jetzt ein Jagdgebiet, die Flüchtlinge bewegen sich darin wie gehetzte Tiere. Sowie einer die Kirche verlässt, wird er polizeilich überprüft.<br />
<br />
Am 28. Februar wurde Shajahan Khan, einer der Sprecher des Flüchtlingsprotests, verhaftet. Beim Verlassen der Kirche wurde er von Zivilbeamte an Armen und Schultern gepackt, ein paar Meter weit getragen und fixiert, bis er von Uniformierten umringt war und in Schubhaft gebracht wurde. Ihm droht die sofortige Rückführung nach Pakistan, dort möglicherweise der Tod. <br />
<br />
Der zahlenmäßig größere Teil der Öffentlichkeit registrierte die Festnahme mit Genugtuung und kommentierte sie voller Hohn und Spott: <i>Gesetz ist Gesetz, also Abflug!</i><br />
<br />
Vertreter des zahlenmäßig kleineren, aber stetig wachsenden Teils waren glücklicherweise auch vor Ort – die Verhaftung wurde vom österreichischen Filmemacher Igor Hauzenberger gefilmt. <i>Gesetz ist Gesetz</i>, das wissen und respektieren auch die Aktivisten der zivilgesellschaftlichen Bewegung, die durch den Hungerstreik in Gang gesetzt wurde. Aber sind Gesetze in Stein gemeiselte, sakrosankte Gegebenheiten? Und was ist Politik, wenn nicht die Kunst, auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen adäquat zu reagieren und das Zusammenleben unterschiedlichster Menschen auf humane Weise zu regeln? <br />
<br />
Im 21. Jahrhundert ist die <i>Human condition</i> ohne Einbeziehung der <i>„Migrant condition“</i> (<a href="http://www.laurawaddington.com/film.php?film=1" TARGET="_blank">Laura Waddington</a>) weder denk- noch darstellbar. Und Globalisierung bedeutet nicht nur, dass man mittels Smartphone jeden beliebigen Ort auf der Welt anwählen kann, es bedeutet auch, dass der Ort, an dem man sich befindet, für andere anwählbar wird. Dieser Gegebenheit wird in den kommenden Jahren auf die eine oder andere Weise Rechnung zu tragen sein. <br />
<br />
*<br />
<br />
<i>Auf die eine oder auf die andere Weise?</i><br />
<br />
Was soll geschehen mit den Migranten der Zukunft? Soll man sie – zusammen mit Obdachlosen und anderen Stigmatisierten – vom Erdball katapultieren, wie es die Leserschaft der Boulevardzeitungen in ihren Kommentaren implizit nahelegt? Oder muss letztlich doch der schwierigere Weg eingeschlagen und eine für alle Beteiligten lebbare Lösung gesucht werden. <br />
<br />
Gehen wir von der Annahme aus, dass die rettende Lösung bereits vorliegt und nur mehr angewandt bzw. exekutiert werden muss, oder machen wir uns die Mühe der gegenteiligen Annahme, wonach sie erst zu entwerfen, erfinden, neu zu erfinden wäre? <br />
<br />
Dafür gebührt den Flüchtlingen aus der Votivkirche der größte Respekt und tiefste Dank: Dass sie unzähligen Menschen in Österreich die Augen und die Einsicht in die Notwendigkeit des zivilgesellschaftlichen Engagements geöffnet haben. Und dass sie einem grausamen Pragmatismus, der jede (In)Fragestellung kategorisch ablehnt und die Antworten immer schon zu kennen vorgibt, beispielhaft die Stirn bieten. <br />
<br />
Allein dafür müsste ihnen Asyl gewährt werden!
<p>
</p><p>
<img width="329" alt="Hierbleiben_2" title="" src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/Hierbleiben_2.jpg" height="156" />
</p><p></p>
<i>P. S. vom 3. März 2013:</i><br />
Die Flüchtlings-Aktivisten haben sich nun doch für den <a href="http://refugeecampvienna.noblogs.org/post/2013/03/03/neue-etappe-des-fluchtlingsprotests/"TARGET="_blank">Umzug</a> in das von der Kirche zur Verfügung gestellte Ausweichquartier im Servitenkloster entschieden: „Mit dem Kloster, für das die Flüchtlinge von Kardinal Schönborn das Gastrecht erhielten, wurde ein neuer, offener und sicherer Ort für protestierenden Flüchtlinge gefunden. (…) Das Kloster wird sowohl private als auch öffentliche Räume bereitstellen, an denen auch Diskussionsrunden, Deutschkurse oder Kulturveranstaltungen stattfinden können.“
Fundsteller
Copyright © 2013 Fundsteller
2013-03-02T06:03:00Z
-
SITZGELEGENHEITEN
https://fundstellen.twoday.net/stories/sitzgelegenheiten/
<i>Der Werkstattsessel</i><br />
<p>
Man kann sich das Leben als endlichen Ablauf von Sitzakten vorstellen. Zwar verbringen wir auch viel Zeit im Stehen, Gehen, Rennen oder Liegen, die meisten wesentlichen Dinge aber erledigen wir im Sitzen. Wir gehören einer Kultur an, die es geschafft hat, die sitzende Tätigkeit vor flimmerndem Bildschirm zur Norm zu erheben. Die Zeit der Gelegenheitssitzer ist damit abgelaufen, wir sind allesamt Kettensitzer geworden. Jeder Tag stellt eine mehr oder minder glückende Serie von Sitzerfahrungen dar. Und es ist nicht ganz auszuschließen, dass unmittelbar vor unserem letzten Schnaufer die Sitzgelegenheiten unseres Lebens wie ein Film vor unserem inneren Auge ablaufen. <br />
<br />
Da wären sie dann alle versammelt: die Sitzmöbel der Kindergärten, die Schulbänke, die wir gedrückt haben wie sie uns, die Sessel in den Wartezimmern und die Zahnarztstühle, die Sitze der Straßenbahnen, Autobusse und Regionalzüge, die Fauteuils und Sofas aus dem familiären und freundschaftlichen Umfeld, die Bestuhlungen der Kinos und Theater, die Flugzeugsitze und die unvermeidlichen weißen oder dunkelgrünen Plastiksessel in den Gastgärten der Cafés, die uns in Kopenhagen ebenso begegnen wie in Katalonien oder auf Korfu. <br />
<br />
Die bloße Erinnerung an diese Sitzmöbel bewirkt überraschende Muskelkontraktionen. Wir sehen sie nicht bloß mit unseren Augen, sondern auch mit den Bandscheiben und Rückenwirbeln. Die Sitzgelegenheiten unserer Lebens standen ja nie untätig in der Gegend herum, sondern waren höchst aktiv. Wenn wir erschöpft vor sie hintraten, wirkten sie einladend und freundlich, aber sobald wir uns auf sie niederließen, zeigten sie uns ihre ganz eigene Art der Machtausübung. Die Sitzgelegenheiten haben uns geprägt. Und zwar nicht nur oberflächlich, wie es der Rattansessel tut, wenn er sein geflochtenes Muster in die Haut einschreibt, sondern tiefer, <i>knochentief</i>. <br />
<br />
Rainer Maria Rilke erzählt in seinen <A HREF="http://www.rilke.de/"Target="_blank"><i>Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge</i></a> die Geschichte von einem Lehnstuhl, der ihm in einem gemieteten Zimmer in Paris begegnete. Er war bereits ein wenig abgewetzt und im oberen Teil der Rückenlehne war eine Mulde spürbar, die der Hinterkopf des Vormieters gegraben hatte. Rilke schauderte vor dieser Stelle zurück. Der Umstand, dass sie exakt zu seiner eigenen Kopfform passte, bereitete ihm tiefes Unbehagen. In der Folge entwickelte sich zwischen ihm und dem Lehnstuhl ein stiller und gnadenloser Kampf. Rilke weigerte sich lange, sich anzulehnen und erfand alle möglichen Schräglagen und Verrenkungen, um nur ja nicht so sitzen zu müssen wie der Stuhl es von ihm forderte. Wer von den beiden zuletzt den Sieg davontrug, ist klar. <br />
<br />
Es ist ein bemerkenswerter Zufall, dass das englische Wort ,chair‘ für Stuhl gleich geschrieben wird wie das französische ,chair‘ für ,Leib‘ oder ,Fleisch‘. Eine etymologische Verwandtschaft zwischen den beiden besteht definitiv nicht. Der ,Leib‘, wie ihn die Philosophen verstehen, ist etwas anderes als der Körper, er ist eine Art übergeordnetes Wahrnehmungssystem, dem alle Sinnesorgane zuarbeiten, der sich aber selbst, indem er zugleich der inneren und der äußeren Welt angehört, der vollständigen Erkenntnis entzieht. Jedes Mal, wenn ein Mensch sich setzt, tritt also das Leib-Mysterium mit dem Sessel-Mysterium in einen vielschichtigen und rätselhaften Dialog ein. Anziehungen und Abstoßungen überschneiden sich darin auf unberechenbare Weise, zuletzt läuft alles auf wechselseitige Durchdringung hinaus. So gesehen ist jeder Stuhl ein ,Leibstuhl‘ und wahrscheinlich befindet sich jeder Mensch unbewusst auf der Suche nach seinem seelenverwandten Sitzobjekt. <br />
<br />
*<br />
<br />
Solche oder ähnliche Gedanken dürften mir durch den Kopf gegangen sein als ich vor einigen Wochen das <i>WerK</i> in der Wiener Kenyongasse betrat. Als ich die paar Stufen ins Souterrain hinunterstieg, kamen mir meine bisherige Sitzbiographie und die Jahrzehnte lange Sesselsuche auf einen Schlag zu Bewusstsein: <br />
<br />
Da stand er. Stumm und selbstbewusst. So selbstverständlich, als wäre er seit jeher an diesem Platz gestanden. <br />
„Da bist du ja endlich“, schien er zu sagen, und ich dachte im gleichen Moment dasselbe. <br />
In konzentrischen Kreisen näherte ich mich ihm an. Er erschien alterslos, konnte vor drei, fünf oder sieben Jahrzehnten gefertigt worden sein oder gerade erst vor einer Stunde. Das war nicht bloß ein Sessel, das war eine Sesselpersönlichkeit. Er war präsent, indem er sich zurücknahm. Nicht dieses ,Seht her! ich bin ein Designer-Stuhl‘, nichts Parfümiertes haftete ihm an. Er war, was er war, gerade heraus und ohne Firlefanzen. <br />
<br />
Er bestand ausschließlich aus gestandenen Materialien: Rundeisen, Holz und Leder. Diese drei sorgten für den Eindruck der Bodenständigkeit. Aber es gab zugleich die entgegengesetzte Strebung: Die Lehnen-Konstruktion war in Bodennähe an die beiden hinteren Sesselbeine geschweißt, was das Objekt sympathisch fragil und schwebend erscheinen ließ: glückendes Zusammentreffen von Zartheit und Robustheit. <br />
<br />
Die ungewöhnliche Lehnen-Konstruktion zwang den Sitz-Debütanten, sich eher vorsichtig auf ihm niederzulassen. Sobald man aber saß und sich zum ersten Mal mit ganzem Gewicht der Lehne überantwortete, erkannte man die Stabilität und hundertprozentige Verlässlichkeit. <br />
<br />
Er war übrigens höher als seine Artgenossen. Statt der gängigen 45cm befand sich seine Sitzfläche 52cm über dem Boden. Dadurch war der Doppelknick, den sich der sitzende Mensch im Bereich der Kniekehlen und der Körpermitte beibringt, etwas abgeschwächt. Im Vergleich zur normalen Sitzhaltung war hier der Bewegungsspielraum größer, was gerade den nervöseren Zeitgenossen sehr entgegenkommen dürfte. Auf ihm sitzend näherte man sich dem Objekt auf der Tischplatte, egal, ob es sich um einen gefüllten Teller oder eine zu reparierende Uhr handelt, aus leicht verschobenem Blickwinkel. Und ja, tatsächlich: Auf ihm zu sitzen bedeutete einen Zuwachs an Wachheit, ohne dass die Gemütlichkeit darunter zu leiden gehabt hätte. <br />
<br />
Als ich mich wieder von ihm erhob und mich darüber freute, dass er mir nun auch offiziell und mit Namen vorgestellt wurde, war mir klar, dass meine Sitzwelt nach dieser Begegnung nicht mehr dieselbe sein würde. Jeder Sessel trägt ein besonderes anatomisches, soziales und ästhetisches Wissen in sich, dieser hier schien über etwas wie Weisheit zu verfügen, die auch mit produktionstechnischen Abläufen wie beispielsweise jenen des Schreibens gut vertraut war. Ihn wollte ich zum Freund. <br />
<br />
*<br />
<br />
Vor einigen Wochen ist der <i>Werkstattsessel</i> von <A HREF="http://www.werknussbaumer.at"Target="_blank">Katja und Werner Nussbaumer</a> bei mir eingezogen. Noch ist er allein, was ein kleines, zugegebener Maßen luxuriöses Problem aufwirft: Ich kann nicht auf ihm sitzen und ihn zugleich betrachten. Dazu bräuchte es einen zweiten, und überhaupt bräuchte es, einem Satz von <A HREF="http://www.thoreausociety.org/_news_abouthdt.htm"Target="_blank">Henry David Thoreau</a> folgend, drei: einen für die Einsamkeit, zwei für die Freundschaft und drei für die Gemeinschaft. <br />
<br />
Andererseits käme ich mir inzwischen ein bisschen schäbig vor, einen anderen seiner Art zu besitzen. Wenn man genau schaut, werden am Sitzleder erste Falten sichtbar; die dunkelbraune Polsterung hat begonnen, die Landkarte meiner Unruhe zu zeichnen. Das ist, wenn man so will, die Mimik des Sessels und seine leise Art der Kritik. Ansonsten trägt er die Belastung, die ich für ihn darstelle, in eindrucksvoller Gelassenheit und Würde. Wir haben uns darauf eingestellt, miteinander zu altern. Er ist mehr als ein Sessel, <i>der Werkstattsessel</i>, eine Seele von Sessel.</p>
<p>
</p><p>
<i>Fundstelle: </i><A HREF="http://www.werknussbaumer.at"Target="_blank"><i>WerK Möbelbau</i></A>, <i>Kenyongasse 20/3, 1070 Wien</i></p>
<p>
</p><p>
<img width="157" alt="Werkstattsessel_Planskizze_werK_Foto: B. K. " title="Werkstattsessel_Planskizze_werK_Foto: B. K. " src="https://static.twoday.net/fundstellen/images/werkstattsessel_klein.jpg" height="236" />
</p><p>
</p><p></p>
Fundsteller
Copyright © 2012 Fundsteller
2012-12-31T15:02:00Z
find
Search this site:
q
https://fundstellen.twoday.net/search