Montag, 24. Februar 2014

ZWISCHENRÄUME

Yoko Tawadas Einführung in die Kunst der Leerstelle

TAWADA_Ich-liebe-dich

Yoko Tawada lesen oder hören bedeutet vor allem eines: sich mit einer besonderen Wahrnehmungsdisposition vertraut machen – mit dem Sehen, Sprechen, Agieren aus dem Zwischenraum.

Yoko Tawada ist Japanerin und Deutsche, zugleich ist sie beides nicht, nicht mehr oder noch nicht, sondern etwas Drittes, das sich aus den jeweiligen Mischverhältnissen augenblicklich ergibt. Genau genommen handelt es sich weniger um ein Sein als um unentwegtes Werden. Seit sie 1982, nach ihrem Literaturstudium, aus Tokyo nach Hamburg kam, wird sie jeden Tag aufs Neue Japanerin und/oder Deutsche, Asiatin und/oder Europäerin.

„Ich kann nicht davon ausgehen, dass mein Bewusstsein abgegrenzt ist von allem anderen. Ich weiß oft nicht, ob ich denke oder ob mein Bleistift denkt. Was ein Hund denkt, der vor mir sitzt, überträgt sich auf meine Gedanken und ich kann nicht mehr sagen, ob das sein Denken ist oder meines.“ (Im Meer der Mehrsprachigkeit, NZZ vom 24.12.12)

Befremden, Selbstbefremdung, befremdeter Raum… – Die Europa-Erfahrung Yoko Tawadas erinnert an den Ausnahmezustand, den Roland Barthes in seinem Buch Im Reich der Zeichen über seine Japan-Erfahrung geschildert hat: die rauschende Masse einer unbekannten Sprache als „delikate Abschirmung“; das unentwegte Nicht-Verstehen, Falsch-Verstehen, Neu-Verstehen als Taumel oder künstliche Leere, die nur für ihn selbst existiert: „Ich lebe in einem Zwischenraum, der frei von jeder vollen Bedeutung ist.“

Tawada: „Keine Tradition zu haben, klingt in Europa negativ oder unglaubwürdig, da ,die Tradition und die Moderne‘ dort zu einem der wichtigsten Denkschemen geworden ist. Dabei wird das Wort ,Moderne‘ oft als Synonym für die westliche Moderne verwendet. Die meisten Fernsehsendungen und Zeitungsartikel behaupten in ihren Beiträgen nichts anderes als den ,Verlust der Tradition durch die Verwestlichung‘. Es spielt keine Rolle, ob es um Nepal, Papua-Neuguinea, Kenia oder Japan geht. Das Motiv der Tradition – oder genauer gesagt ihr Verlust – beschäftigt Europa so sehr, dass man nichts anderes mehr tut, als die außereuropäische Welt zu bemitleiden, weil dort die Tradition verloren gegangen sein soll. Auch ich habe mittlerweile Mitleid mit mir, weil auch meine Tradition verloren gegangen sein muss, die aber eventuell von Anfang an gar nicht existierte. (Über die Zeit 5, Vergänglichkeit, erschienen 2004 in der Zeitschrift Werk, Bauen + Wohnen)

Frei von jeder „vollen“ Bedeutung – Was tritt bei Tawada an die Stelle der Tradition? Eine besondere Art der Gewärtigkeit. Wo die gewohnten Konventionen und Regelwerke aussetzen, ist man gezwungen, die eigenen Aufmerksamkeiten neu zu erproben. Eingefahrene Blickmuster werden unwillkürlich hinterfragt und durchbrochen. Anstelle schwer wiegender Überzeugungen, die den Blick auf das unmittelbare Geschehen verstellen, treten hier kleine, mit schnellem Strich skizzierte Versuchsanordnungen.

Mehr als vierzig Bücher hat Yoko Tawada bisher in Europa und in Japan veröffentlicht. Im deutschsprachigen Raum erschienen u. a. Das Bad (1989), Ein Gast (1993), Wo Europa anfängt (1991), Überseezungen (2002), Das nackte Auge (2004), Der Schwager aus Bordeaux (2004) und zuletzt Abenteuer der deutschen Grammatik (2010); in diesen Tagen erscheint beim Hamburger Konkursbuch Verlag ihr jüngstes Buch Etüden im Schnee.

Aus den Hohlräumen, die zwischen Prosa, Lyrik und Essay klaffen, generiert Tawada federleichte Sätze und überraschende poetische Formationen, die sich gut für U-Bahn-Fahrten und die gelegentlichen Betriebsstörungen, auf die man dabei gefasst sein muss, eignen.

Die spezielle Weisheit hinter Tawadas poetischen Interventionen ist das ,ma‘. Das japanische Wort für ,Raum‘ bezeichnet auch den negative space, die Leerstellen, Intervalle, die den Informationsfluss zwischen Dingen und Personen unterbrechen. Es zielt auf ein Bewusstsein des Raums als Zusammenspiel der Formen und des Formlosen.

Tawada: „,Mu‘ heißt Nichts, ,mi‘ die Frucht oder der Körper, ,me‘ die Augen. Die Zeit, die man weder messen noch füllen kann, ist ein ,ma‘. ,Ma‘ kann auch Magie oder ein gefährlicher Geist bedeuten. Und gerade dieses Moment, das aus jeder Zeitordnung herausfällt, kann die interessanteste Zeit für die Poesie sein.“ (Über die Zeit 7, Zwischenräume)

*

Die Dichtkunst unterliegt keinem Effizienz-Imperativ. Sie evaluieren zu wollen, hieße ihre wesentlichste Qualität missverstehen. Yoko Tawada wird weiterhin auf ihre unverwechselbare Art agieren und Bücher schreiben, ihre Intention kann es nicht sein, der poetischen Äußerung einen gesellschaftlichen Nutzen abzuringen.

Angesichts der gegenwärtigen geopolitischem Zuspitzungen erscheint es aber gar nicht mehr so absurd, auf das implizit Politische dieser Wahrnehmungsdisposition aus dem Zwischenraum zu verweisen.

Der Zwischenraum ist ein Wissen. Er ist beides: geschärfte Aufmerksamkeit für die „Zwischenwelt“, in der die Blicke sich kreuzen und die Wahrnehmungen sich überschneiden, und ein hoch entwickelter Sinn für die alles umgebende Leere, für das weiße Blatt, auf dem sich die Begegnungen abspielen. Der Zwischenraum ist, wenn man so will, eine Kulturtechnik.

Tawadas mit 'ma' vertrauter Blick ist immer schon mehrdimensional. Müßte man ihm eine Körperhaltung zuordnen, wäre es vielleicht die einer Katze, die den Bewegungsablauf auf Tieflage umstellt, nicht um zu jagen, sondern um die Gefahr besser einschätzen zu können und sprungbereit zu sein.

Die besondere Dynamik dieses Seh- und Bewegungsverhaltens aus dem Zwischenraum wird in dem oben abgebildeten Satz aus dem Abenteuer der deutschen Grammatik spürbar:

Ein zentraler deutscher Satz wird ins Japanische übersetzt und von dort in Spiegelübersetzung in die Herkunftssprache zurückgerufen: "Was mich betrifft, bist du begehrenswürdig." – hier der äußerste Rückbezug ("was mich betrifft"), dort die unmissverständliche Bezugnahme ("du bist"); dazwischen öffnet sich ein weites Feld, in dem viel Begehren und Würde Platz finden…

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Am 3. März um 19.00 Uhr ist Yoko Tawada bei Steinbrener/Dempf zu Gast. Die Lesung findet im Rahmen des Eröffnungsfests zu Manuela Marks Ausstellung „möglicherweise hier“ statt, die bis 20. März – von der Straßenseite her – zu sehen sein wird. (Kuratorin: section/a, Katharina Boesch): Steinbrener/Dempf, Glockengasse 6, 1020 Wien


*) Abbildung: Yoko Tawada, aus „Abenteuer der deutschen Grammatik“, © konkursbuch Verlag Claudia Gehrke

Samstag, 2. März 2013

FLÜCHTLINGSPROTESTE

Die Flüchtlinge in der Wiener Votivkirche haben ihren Hungerstreik beendet. Die zivilgesellschaftliche Grundsatzdebatte, die sie damit entfacht haben, steht erst an ihrem Anfang…

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Das verstörendste Wort, das in den Wintermonaten durch die Stadt und die Medien geisterte, lautete Hungerstreik. Nichts schien weniger in das trotz vielfältiger Krisenerscheinungen vor Wohlstand strotzende Wien zu passen als ein Hungerstreik.

Der Hungerstreik übersteigt den Erfahrungshorizont der Bevölkerung. Auf demonstrative Verweigerung der Nahrungsaufnahme war hier in den letzten Jahrzehnten niemand angewiesen. Der Grad an Verzweiflung, der dieser „besonderen Form des passiven Widerstands, die den eigenen Organismus als Argument einsetzt“ vorausgeht, erscheint von hier aus kaum nachvollziehbar. Ein drastischeres Verfahren des Protests kann es nicht geben.

Für einen großen Teil der Öffentlichkeit bedeutete der Flüchtlingsprotest doppeltes Befremden: Schon die Gestalt des Flüchtlings wird im tendenziell xenophoben Österreich als unangenehmes Hereinbrechen von Wirklichkeit in fragile Idyllen erfahren; der Flüchtling im Hungerstreik vervielfacht das Unbehagen und setzt enorme Aggressionspotenziale frei…

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Wie es zum Hungerstreik der Flüchtlinge in der Wiener Votivkirche kam, ist bekannt; eine detaillierte Chronik der Ereignisse findet sich auf den Webseiten des RefugeeProtestCamps Vienna. Hier nur die Eckdaten:

Am 24. November 2012 brach eine Gruppe von Flüchtlingen zum 35 km langen Fußmarsch vom Flüchtlingslager Traiskirchen nach Wien auf. Es war ein feuchtkalter Sonntag, trotzdem trugen einige Leute nur Flipflops an nackten Füßen. Das Ziel der Manifestation war und ist es, auf die unerträgliche Situation der Asylsuchenden in Österreich aufmerksam zu machen.

Die wichtigsten der sechs von den Refugee-Aktivisten formulierten Forderungen lauten: Grundversorgung für alle AsylwerberInnen, und zwar unabhängig von ihrem Rechtsstatus – das Recht zu Überleben; freie Wahl des Aufenthaltsortes – das Recht auf freie Bewegung; Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsinstitutionen – das Recht tätig zu sein; frei atmen, sich bewegen, arbeiten dürfen, allzu vermessen erscheint das nicht.

In der Folge schlugen die Flüchtlinge im Sigmund-Freud-Park ein improvisiertes Zeltlager auf. Damit wurde in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt ein Stück österreichischer, europäischer und globaler Realität sichtbar, die sich normalerweise nur in kurz aufblitzenden Schlagzeilen über brennende Asylheime, gesunkene Flüchtlingsboote oder überfüllte Anhaltezentren zu erkennen gibt.

Am 28. Dezember wurde das Camp polizeilich geräumt. Sigmund Freud, dem der Park seinen Namen verdankt, hätte sowohl als Wissenschaftler als auch als persönlich Exilierter viel zur Flüchtlings-Thematik und zu den Emotionen, die sie in manchen Teilen der Bevölkerung auslöst, zu sagen gehabt; und er hätte wohl auch die „Verhältnismäßigkeit“ der Räumung treffend analysiert.

Am 22. Dezember trat ein Teil der Refugee-Aktivisten in Hungerstreik. Zunächst waren fünfundzwanzig, später vierzig Männer beteiligt, einige von ihnen wurden in der Zwischenzeit gemäß Dublin 2-Verordnung nach Ungarn abgeschoben oder befinden sich in Schubhaft. Nach einer zehntägigen Unterbrechung – die Flüchtlinge unternahmen einen weiteren Versuch, mit Regierungsvertretern ins Gespräch zu kommen, fanden aber kein Gehör – wurde er am 1. Februar wieder aufgenommen. Das schaurige Drama nahm seinen Lauf: zerbrechliche, rasch verfallende Menschenkörper gegen die behäbig vor sich hin mäandernden Abläufe in der österreichischen und europäischen Bürokratie…

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Es erscheint paradox: Um auf den fehlenden Ort in der Gesellschaft, der die Flüchtlinge – zumindest temporär – angehören, hinzuweisen, mussten sie ihre Körper durch Nahrungsentzug tendenziell zum Verschwinden bringen. Um gehört zu werden, blieb ihnen nur der Weg des sukzessiven Verstummens.

Aber spiegelt sich nicht in diesem Paradox exakt die Ausgangslage der Flüchtlinge wider?

Wie lebt ein Mensch, der nicht wahr sein oder tätig werden darf? Wie soll oder kann jemand leben, der von jedem persönlichen Wollen und jeder gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen ist? Wie existiert, wer unbestreitbar Bestandteil gegenwärtiger sozialer Realität ist, aber zugleich zu bedingungsloser Nicht-Sichtbarkeit verurteilt ist? Und was ließe sich den Vertretern einer Bevölkerungsgruppe raten, die als passive Verschubmasse behandelt wird und als solche eher der Ding- als der Menschenwelt angehört?

Sofern man ,Nahrung‘ in einem weiteren Sinn auffasst und auch das Recht auf Arbeit, Bildung und freie Wahl des Aufenthaltsortes mit einschließt, ist sie den Flüchtlingen faktisch immer schon entzogen. Während alle Welt von Vernetzung spricht, sind sie immer schon aus dem Verkehr gezogen.

Insofern erwies sich auch der gut gemeinte Vorschlag der Kirche, die Flüchtlinge im Souterrain des leer stehenden Servitenklosters unterzubringen, als problematisch. Damit wären die Flüchtlinge neuerlich in der Versenkung verschwunden. Es ging und geht ihnen schon auch darum, die Existenzbedingungen dieser weitgehend rechtlosen und zukunftslosen Bevölkerungsgruppe einer breiten Öffentlichkeit zu Bewusstsein zu bringen.

*

Die hungerstreikenden Flüchtlinge in der Votivkirche sind nicht gekommen, um den ÖsterreicherInnen etwas wegzunehmen, sondern haben ihnen etwas mitgebracht: den aktuellen und Fleisch gewordenen Zustandsbericht über die Gesellschaft, in der wir alle leben. Vor allem aber haben sie eine zivilgesellschaftliche Grundsatzdebatte entfacht:

Gibt es ein (humanitäres) Gesetz vor den Gesetzen?
Gibt es eine andere Art der Beziehung zu Flüchtlingen als die im Zeichen gnadenloser Repression und populistischer Häme?
Gibt es eine zivilgesellschaftliche Vernunft, die zu verhindern weiß, dass sich eine Klasse ausgestoßener, überall unerwünschter, bedingungslos ausbeutbarer, letztlich vogelfreier Menschen in Österreich und Europa herausbildet? (…)

Diese Fragen brauchten von den Refugee-Aktivisten nicht explizit gestellt zu werden, sie waren gestellt, schlagartig, durch ihr bloßes Erscheinen auf der politischen Bühne.

Für die schlummernde Öffentlichkeit bedeutete es ein abruptes Erwachen und fortschreitende Polarisierung:

Auf der einen Seite der zahlenmäßig kleinere Teil, der bereit ist, trotz aller kulturellen Verschiedenheit die eigene Existenz mit jener der Refugees in Relation zu setzen; auf der anderen Seite der zahlenmäßig größere Teil, der sich – worin eigentlich? – gestört fühlt und sich immer schon in einer besseren, gesicherteren, übergeordneten oder höherrangigen Position wähnt. (Freilich gibt es auch noch den zahlenmäßig größten, dritten Teil: jene Menschen, die bislang wenig Notiz von der Migrationsproblematik genommen oder sich nicht dazu geäußert haben.)

Zum zahlenmäßig kleineren Teil gehören u. a. die UnterstützerInnen, die den Refugees mit wintertauglicher Kleidung aushalfen, sie mit blitzartig organisierten Sprachkursen unterstützten oder die Ereignisse rund um den Protest auf hohem technischen und fachlichen Niveau in Wort und Bild dokumentierten; dazu gehören AutorInnen und KünstlerInnen wie Susanne Scholl, Jean Ziegler, Peter Waterhouse, Paul Poet oder Marina Grzinic, die mehrere Tage und Nächte in der Votivkirche verbrachten und Gespräche mit den Flüchtlingen führten; dazu gehören WissenschaftlerInnen wie z. B. die Wiener Politikwissenschafterin Sieglinde Rosenberger, die das österreichische Asylwesen über mehrere Jahre beobachtet und analysiert hat und es zusammenfassend als „strukturelle Desintegration“ charakterisiert; dazu gehört das international renommierte Ludwig Boltzmann-Institut für Menschenrechte, das die gängige Definition des Flüchtlings laut Genfer Konvention relativiert, insofern diese im Kontext der Nachkriegszeit entstand und dringend den heutigen Verhältnissen angepasst werden müsste; dazu gehören zwei etablierte politische Parteien, die die Forderungen der Flüchtlinge zumindest teilweise aufgegriffen haben; nicht zuletzt gehören tausende Menschen dazu, die an österreichischen oder internationalen Solidaritätskundgebungen teilnahmen und weiterhin daran teilnehmen werden.

Zu dem anderen, zahlenmäßig größeren Teil, der willentlicher Ignoranz und Zynismus gern freien Lauf lässt, gehörten u. a. die Früchtchen des Zorns, die vor einigen Wochen zur „Besetzung der Besetzung“ aufgerufen haben: Neun junge Recken hatten versucht, eine Eskalation in der Kirche zu provozieren, kapitulierten aber vor der stillen Autorität der hungerstreikenden Flüchtlinge. Wer unvermittelt Menschen wie Shajahan Khan, Muhammed Numan, Jahangir Mir oder Adalat Kahn von Angesicht zu Angesicht gegenüber tritt, verstummt leicht vor der Ausdruckskraft der durch Flucht- und Leidenserfahrung gezeichneten Gesichter: „Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden.“ (Emmanuel Lévinas), dies scheint für die Refugees in besonderem Maß zu gelten; zu dieser Gruppe gehören weiter die Verfasser der unzähligen menschenverachtenden Postings, die täglich in die Online-Ausgaben der österreichischen Tageszeitungen gepumpt werden und die zusammengenommen diese bedrohliche Sprechblase ergeben, die derzeit über der Wiener Votivkirche hängt und sie manchmal fast zu erdrücken scheint; nicht zuletzt gehören PolitikerInnen verschiedenster Färbung dazu, die im so genannten Superwahljahr mehr noch als sonst dem Populismus frönen und lieber dem tausendfach Gehörten folgen als dem Unerhörten oder leicht Überhörbaren.

*

Am 18. Februar beendeten die Refugees den Hungerstreik. Dazu hat nicht zuletzt der Antwortbrief des Bundespräsidenten an die Flüchtlinge beigetragen, in dem er ihnen zwar keinerlei Hoffnung oder Zugeständnisse im Bezug auf ihre Forderungen machen konnte, der Manifestation aber große Anerkennung zollte: „Denn Menschen, die all das auf sich nehmen, was Sie und die von Ihnen erwähnten Personen auf sich nehmen, verdienen es, ernst genommen zu werden.“

Nach dem Hungerstreik hat sich die Lage verschärft. Die Gegend um die Wiener Votivkirche ist jetzt ein Jagdgebiet, die Flüchtlinge bewegen sich darin wie gehetzte Tiere. Sowie einer die Kirche verlässt, wird er polizeilich überprüft.

Am 28. Februar wurde Shajahan Khan, einer der Sprecher des Flüchtlingsprotests, verhaftet. Beim Verlassen der Kirche wurde er von Zivilbeamte an Armen und Schultern gepackt, ein paar Meter weit getragen und fixiert, bis er von Uniformierten umringt war und in Schubhaft gebracht wurde. Ihm droht die sofortige Rückführung nach Pakistan, dort möglicherweise der Tod.

Der zahlenmäßig größere Teil der Öffentlichkeit registrierte die Festnahme mit Genugtuung und kommentierte sie voller Hohn und Spott: Gesetz ist Gesetz, also Abflug!

Vertreter des zahlenmäßig kleineren, aber stetig wachsenden Teils waren glücklicherweise auch vor Ort – die Verhaftung wurde vom österreichischen Filmemacher Igor Hauzenberger gefilmt. Gesetz ist Gesetz, das wissen und respektieren auch die Aktivisten der zivilgesellschaftlichen Bewegung, die durch den Hungerstreik in Gang gesetzt wurde. Aber sind Gesetze in Stein gemeiselte, sakrosankte Gegebenheiten? Und was ist Politik, wenn nicht die Kunst, auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen adäquat zu reagieren und das Zusammenleben unterschiedlichster Menschen auf humane Weise zu regeln?

Im 21. Jahrhundert ist die Human condition ohne Einbeziehung der „Migrant condition“ (Laura Waddington) weder denk- noch darstellbar. Und Globalisierung bedeutet nicht nur, dass man mittels Smartphone jeden beliebigen Ort auf der Welt anwählen kann, es bedeutet auch, dass der Ort, an dem man sich befindet, für andere anwählbar wird. Dieser Gegebenheit wird in den kommenden Jahren auf die eine oder andere Weise Rechnung zu tragen sein.

*

Auf die eine oder auf die andere Weise?

Was soll geschehen mit den Migranten der Zukunft? Soll man sie – zusammen mit Obdachlosen und anderen Stigmatisierten – vom Erdball katapultieren, wie es die Leserschaft der Boulevardzeitungen in ihren Kommentaren implizit nahelegt? Oder muss letztlich doch der schwierigere Weg eingeschlagen und eine für alle Beteiligten lebbare Lösung gesucht werden.

Gehen wir von der Annahme aus, dass die rettende Lösung bereits vorliegt und nur mehr angewandt bzw. exekutiert werden muss, oder machen wir uns die Mühe der gegenteiligen Annahme, wonach sie erst zu entwerfen, erfinden, neu zu erfinden wäre?

Dafür gebührt den Flüchtlingen aus der Votivkirche der größte Respekt und tiefste Dank: Dass sie unzähligen Menschen in Österreich die Augen und die Einsicht in die Notwendigkeit des zivilgesellschaftlichen Engagements geöffnet haben. Und dass sie einem grausamen Pragmatismus, der jede (In)Fragestellung kategorisch ablehnt und die Antworten immer schon zu kennen vorgibt, beispielhaft die Stirn bieten.

Allein dafür müsste ihnen Asyl gewährt werden!

Hierbleiben_2

P. S. vom 3. März 2013:
Die Flüchtlings-Aktivisten haben sich nun doch für den Umzug in das von der Kirche zur Verfügung gestellte Ausweichquartier im Servitenkloster entschieden: „Mit dem Kloster, für das die Flüchtlinge von Kardinal Schönborn das Gastrecht erhielten, wurde ein neuer, offener und sicherer Ort für protestierenden Flüchtlinge gefunden. (…) Das Kloster wird sowohl private als auch öffentliche Räume bereitstellen, an denen auch Diskussionsrunden, Deutschkurse oder Kulturveranstaltungen stattfinden können.“

Montag, 31. Dezember 2012

SITZGELEGENHEITEN

Der Werkstattsessel

Man kann sich das Leben als endlichen Ablauf von Sitzakten vorstellen. Zwar verbringen wir auch viel Zeit im Stehen, Gehen, Rennen oder Liegen, die meisten wesentlichen Dinge aber erledigen wir im Sitzen. Wir gehören einer Kultur an, die es geschafft hat, die sitzende Tätigkeit vor flimmerndem Bildschirm zur Norm zu erheben. Die Zeit der Gelegenheitssitzer ist damit abgelaufen, wir sind allesamt Kettensitzer geworden. Jeder Tag stellt eine mehr oder minder glückende Serie von Sitzerfahrungen dar. Und es ist nicht ganz auszuschließen, dass unmittelbar vor unserem letzten Schnaufer die Sitzgelegenheiten unseres Lebens wie ein Film vor unserem inneren Auge ablaufen.

Da wären sie dann alle versammelt: die Sitzmöbel der Kindergärten, die Schulbänke, die wir gedrückt haben wie sie uns, die Sessel in den Wartezimmern und die Zahnarztstühle, die Sitze der Straßenbahnen, Autobusse und Regionalzüge, die Fauteuils und Sofas aus dem familiären und freundschaftlichen Umfeld, die Bestuhlungen der Kinos und Theater, die Flugzeugsitze und die unvermeidlichen weißen oder dunkelgrünen Plastiksessel in den Gastgärten der Cafés, die uns in Kopenhagen ebenso begegnen wie in Katalonien oder auf Korfu.

Die bloße Erinnerung an diese Sitzmöbel bewirkt überraschende Muskelkontraktionen. Wir sehen sie nicht bloß mit unseren Augen, sondern auch mit den Bandscheiben und Rückenwirbeln. Die Sitzgelegenheiten unserer Lebens standen ja nie untätig in der Gegend herum, sondern waren höchst aktiv. Wenn wir erschöpft vor sie hintraten, wirkten sie einladend und freundlich, aber sobald wir uns auf sie niederließen, zeigten sie uns ihre ganz eigene Art der Machtausübung. Die Sitzgelegenheiten haben uns geprägt. Und zwar nicht nur oberflächlich, wie es der Rattansessel tut, wenn er sein geflochtenes Muster in die Haut einschreibt, sondern tiefer, knochentief.

Rainer Maria Rilke erzählt in seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge die Geschichte von einem Lehnstuhl, der ihm in einem gemieteten Zimmer in Paris begegnete. Er war bereits ein wenig abgewetzt und im oberen Teil der Rückenlehne war eine Mulde spürbar, die der Hinterkopf des Vormieters gegraben hatte. Rilke schauderte vor dieser Stelle zurück. Der Umstand, dass sie exakt zu seiner eigenen Kopfform passte, bereitete ihm tiefes Unbehagen. In der Folge entwickelte sich zwischen ihm und dem Lehnstuhl ein stiller und gnadenloser Kampf. Rilke weigerte sich lange, sich anzulehnen und erfand alle möglichen Schräglagen und Verrenkungen, um nur ja nicht so sitzen zu müssen wie der Stuhl es von ihm forderte. Wer von den beiden zuletzt den Sieg davontrug, ist klar.

Es ist ein bemerkenswerter Zufall, dass das englische Wort ,chair‘ für Stuhl gleich geschrieben wird wie das französische ,chair‘ für ,Leib‘ oder ,Fleisch‘. Eine etymologische Verwandtschaft zwischen den beiden besteht definitiv nicht. Der ,Leib‘, wie ihn die Philosophen verstehen, ist etwas anderes als der Körper, er ist eine Art übergeordnetes Wahrnehmungssystem, dem alle Sinnesorgane zuarbeiten, der sich aber selbst, indem er zugleich der inneren und der äußeren Welt angehört, der vollständigen Erkenntnis entzieht. Jedes Mal, wenn ein Mensch sich setzt, tritt also das Leib-Mysterium mit dem Sessel-Mysterium in einen vielschichtigen und rätselhaften Dialog ein. Anziehungen und Abstoßungen überschneiden sich darin auf unberechenbare Weise, zuletzt läuft alles auf wechselseitige Durchdringung hinaus. So gesehen ist jeder Stuhl ein ,Leibstuhl‘ und wahrscheinlich befindet sich jeder Mensch unbewusst auf der Suche nach seinem seelenverwandten Sitzobjekt.

*

Solche oder ähnliche Gedanken dürften mir durch den Kopf gegangen sein als ich vor einigen Wochen das WerK in der Wiener Kenyongasse betrat. Als ich die paar Stufen ins Souterrain hinunterstieg, kamen mir meine bisherige Sitzbiographie und die Jahrzehnte lange Sesselsuche auf einen Schlag zu Bewusstsein:

Da stand er. Stumm und selbstbewusst. So selbstverständlich, als wäre er seit jeher an diesem Platz gestanden.
„Da bist du ja endlich“, schien er zu sagen, und ich dachte im gleichen Moment dasselbe.
In konzentrischen Kreisen näherte ich mich ihm an. Er erschien alterslos, konnte vor drei, fünf oder sieben Jahrzehnten gefertigt worden sein oder gerade erst vor einer Stunde. Das war nicht bloß ein Sessel, das war eine Sesselpersönlichkeit. Er war präsent, indem er sich zurücknahm. Nicht dieses ,Seht her! ich bin ein Designer-Stuhl‘, nichts Parfümiertes haftete ihm an. Er war, was er war, gerade heraus und ohne Firlefanzen.

Er bestand ausschließlich aus gestandenen Materialien: Rundeisen, Holz und Leder. Diese drei sorgten für den Eindruck der Bodenständigkeit. Aber es gab zugleich die entgegengesetzte Strebung: Die Lehnen-Konstruktion war in Bodennähe an die beiden hinteren Sesselbeine geschweißt, was das Objekt sympathisch fragil und schwebend erscheinen ließ: glückendes Zusammentreffen von Zartheit und Robustheit.

Die ungewöhnliche Lehnen-Konstruktion zwang den Sitz-Debütanten, sich eher vorsichtig auf ihm niederzulassen. Sobald man aber saß und sich zum ersten Mal mit ganzem Gewicht der Lehne überantwortete, erkannte man die Stabilität und hundertprozentige Verlässlichkeit.

Er war übrigens höher als seine Artgenossen. Statt der gängigen 45cm befand sich seine Sitzfläche 52cm über dem Boden. Dadurch war der Doppelknick, den sich der sitzende Mensch im Bereich der Kniekehlen und der Körpermitte beibringt, etwas abgeschwächt. Im Vergleich zur normalen Sitzhaltung war hier der Bewegungsspielraum größer, was gerade den nervöseren Zeitgenossen sehr entgegenkommen dürfte. Auf ihm sitzend näherte man sich dem Objekt auf der Tischplatte, egal, ob es sich um einen gefüllten Teller oder eine zu reparierende Uhr handelt, aus leicht verschobenem Blickwinkel. Und ja, tatsächlich: Auf ihm zu sitzen bedeutete einen Zuwachs an Wachheit, ohne dass die Gemütlichkeit darunter zu leiden gehabt hätte.

Als ich mich wieder von ihm erhob und mich darüber freute, dass er mir nun auch offiziell und mit Namen vorgestellt wurde, war mir klar, dass meine Sitzwelt nach dieser Begegnung nicht mehr dieselbe sein würde. Jeder Sessel trägt ein besonderes anatomisches, soziales und ästhetisches Wissen in sich, dieser hier schien über etwas wie Weisheit zu verfügen, die auch mit produktionstechnischen Abläufen wie beispielsweise jenen des Schreibens gut vertraut war. Ihn wollte ich zum Freund.

*

Vor einigen Wochen ist der Werkstattsessel von Katja und Werner Nussbaumer bei mir eingezogen. Noch ist er allein, was ein kleines, zugegebener Maßen luxuriöses Problem aufwirft: Ich kann nicht auf ihm sitzen und ihn zugleich betrachten. Dazu bräuchte es einen zweiten, und überhaupt bräuchte es, einem Satz von Henry David Thoreau folgend, drei: einen für die Einsamkeit, zwei für die Freundschaft und drei für die Gemeinschaft.

Andererseits käme ich mir inzwischen ein bisschen schäbig vor, einen anderen seiner Art zu besitzen. Wenn man genau schaut, werden am Sitzleder erste Falten sichtbar; die dunkelbraune Polsterung hat begonnen, die Landkarte meiner Unruhe zu zeichnen. Das ist, wenn man so will, die Mimik des Sessels und seine leise Art der Kritik. Ansonsten trägt er die Belastung, die ich für ihn darstelle, in eindrucksvoller Gelassenheit und Würde. Wir haben uns darauf eingestellt, miteinander zu altern. Er ist mehr als ein Sessel, der Werkstattsessel, eine Seele von Sessel.

Fundstelle: WerK Möbelbau, Kenyongasse 20/3, 1070 Wien

Werkstattsessel_Planskizze_werK_Foto: B. K.

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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