Dienstag, 11. Januar 2011

WEGELAGERER

Gehst deines Weges, denkst nichts Verkehrtes, nur ans Weiterkommen, an die Arbeit und den kleinen Konsumreiz, der dir nach ihrer Verrichtung zusteht. Alles im Lot, im Grunde bist du ein zufriedener Mensch. Da springt, urplötzlich, aus dem Schaufenster ein Wegelagerer hervor, zumindest erscheint es dir so, denn in Wahrheit sprang natürlich nichts und niemand hervor, sondern du selbst warst es, der in die Auslage eingedrungen ist, weil du insgeheim auf der Suche nach einer Möglichkeit, einer Ablenkung, einem Ausweg warst.

In meinem (Aus-)Fall war es ein Buch mit dem Titel Mystische Fabel. Es war, was gerade noch gefehlt hat. Das Deck steht in Flammen, im Schiffsrumpf klafft ein Leck, und dazu zwei so unzeitgemäße Vokabel wie ,Mystik‘ und ,Fabel‘.

Der Autor des Werks, Michel de Certeau, ist einschlägig vorbelastet. Ein früheres Buch von ihm, Die Kunst des Handelns, hat in den 1990er Jahren für sanfte Entgleisungen gesorgt und sich zuletzt als brauchbares Werkzeug zum besseren Verständnis alltäglicher Praktiken wie z.B. des Gehens, Sehens, Lesens oder Schreibens erwiesen.

„Mystiker ist, wer nicht aufhören kann, zu wandern, und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiß: Das ist es nicht!“ – So lautet der raffiniert gewählte Klappentext des 500 Seiten-Wälzers, der in Frankreich bereits 1982 (vor der Entdeckung des HIV-Virus, vor Tschernobyl, dem Mauerfall, den Kriegen am Balkan, der Währungsunion etc.) erschien und nun mit beinahe dreißigjähriger Verspätung den deutschen Sprachraum heimsucht.

Es ist ein Buch über die unausweichliche Leerstelle. Es geht darin um die Nicht-Präsenz (Gottes, des Sinns, des geliebten Objekts etc.), um den wesentlichen Mangel, eben um das Nicht-Finden. Und es geht um beispielhafte Handlungsweisen: wie man seit Beginn der Neuzeit in der geistlichen, geistigen und künstlerischen Welt mit dieser Abwesenheit umgegangen ist, wie man die Leerstelle – nicht selten bis zur Verrückung – umspielt oder umschrieben hat.

Certeau: „Von diesem Geist des Überschreitens, der hingerissen ist von einem uneinholbaren Ursprung oder Ende, Gott genannt, scheint in der zeitgenössischen Kultur vor allem die Bewegung des unaufhörlichen Aufbrechens zu überdauern…“ – und hier die zentrale Hypothese – „…als bewahrte die Erfahrung, die sich nicht mehr auf den Glauben an Gott gründen kann, einzig noch die Form und nicht mehr den Inhalt der traditionellen Mystik.“ (S. 488)

Mystische Fabel ist eine filmische Zeitreise. Sie führt vom leeren Grab Christi über mittelalterliche Marktplätze, durch den Garten der Lüste (Hieronymus Bosch) und mehrere Klosterzellen (u.a. in jene der Teresa von Avila), sie folgt den Spuren des bis zum Wahnsinn rastlosen Wahrheitssuchers Jean de Labadie und durchschreitet ein Gedicht von Catherine Pozzi – von dort aus zielt sie geradewegs ins weltweite Netz, ins Medium Blog, wo sich zeitgenössisches Schreiben ereignet.

Lesen und Schreiben, diese Grund legenden Verrichtungen.
Der Blog ist dafür Mittel und Hohlraum. Woher aber rührt die Energie, die ihn millionenfach und aus allen Ecken der Welt unaufhörlich mit Worten, Gesten und „Sinn“ befüllt?
– Im Energiefeld dieser Frage könnte sich das Fundstück* als multifunktional erweisen: als Waffe, Werkzeug und als Schlüssel…

*) Michel de Certeau, "Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert"; aus dem Französischen von Michael Lauble, Berlin 2010, Suhrkamp.

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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Zuletzt aktualisiert: 22. Jun, 00:49

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