Donnerstag, 4. Juni 2015

LEBENDIGKEITEN

Bis um ein Uhr früh, heißt es, habe man in der Vollmondnacht bei Kanzlerin Merkel in Berlin über das weitere Schicksal Griechenlands diskutiert. Als erster sei François Hollande aufgebrochen, am längsten geblieben Christine Lagarde. Es hat schon etwas Befremdliches, wenn man zur selben Zeit mitten in Athen am Omonia-Platz sitzt und die neuzeitlichen Schicksalsgötter der Brüsseler Gruppe vor seinem inneren Auge vorüberziehen lässt: Mario Draghi, Jean-Claude Juncker und wie sie alle heißen… – das Europa der Institutionen.

Die Leute am Omonia-Platz haben nicht die Zeit, den nächsten Richterspruch aus Berlin abzuwarten. Die Druckverhältnisse sind enorm. Sogar die Tauben sind hier schlanker als andernorts. Die Bausubstanz verfällt, ehemals belebte Passagen bergen nur noch leere Geschäftslokale aber bieten den Obdachlosen Schutz vor Sonne und Regen. Man versucht, aus schlechten Bedingungen das Beste zu machen. Die Menschen üben sich in der Kunst des Überlebens und verstehen es, der sich ausbreitenden Wüste etwas wie Lebenssaft oder sogar Lebensqualität abzuringen… – das Europa der alltäglichen Schadensbegrenzung.

Die gesamte Stadt ist von einer Dynamik (gr. dynamis: 'Kraft oder Vermögen, eine Veränderung herbeizuführen') erfüllt, die sich ein Big Player in Brüssel oder Berlin nicht einmal in Ansätzen vorstellen kann. Dafür fehlt ihm naturgemäß der Sinn. Und war es nicht genau diese Rest-Lebendigkeit, die den Griechen im medialen Dauer-Bashing vorgeworfen wurde? – „Werdet endlich wie Deutsche!“ Sie sind es, den Göttinnen und Göttern sei Dank, nicht geworden.

Ein paar Schritte in Richtung Nordosten befindet sich Exarchia, das interkulturelle Kraftzentrum der Stadt, ein paar Schritte in Richtung Süden liegt der Syntagma-Platz mit dem Regierungsgebäude; ein paar Meter weiter gerät man bereits in den Sog der Akropolis. An jedem Standort stellt sich dasselbe Gefühl ein: Alles hier möchte blühen aber stößt auf ein Hindernis.

In Berlin wird indessen die große Machtgeste vollzogen. Es gehe um viel, sagt man, bis Freitag müsse Griechenland dreihundert Millionen Euro an den Internationalen Währungsfond (IWF) überwiesen haben; eine Summe die man hier gut gebrauchen könnte, z. B. für soziale oder sozialmedizinische Maßnahmen. Parallel dazu erlebt man in Athen diese unglaubliche Fülle an kleinen, erfinderischen, liebenswürdigen, hilfsbereiten oder witzigen Gesten, die auf bitter-ironische Art verdeutlichen, wie weit sich die Menschen Europas von den Institutionen (oder umgekehrt) entfernt haben.

Athen wird sich nicht unterkriegen lassen. Das Banken-Imperium kann die Lage weiter verschlimmern, zu Fall bringen wird es die Stadt nicht. (Gemäß den Forderungen der Eurogruppe und des IWF müssten neben dem Verkauf oder der Privatisierung der vorhandenen Infrastruktur auch kleine Pensionen weiter geschrumpft werden.) Die europäischen Erbsenzähler sind mächtig, ob sie auch der angewandten Weisheit der Göttin Metis gewachsen sind, wird sich erst zeigen.

Europäischer als man es hier ist, kann man nicht sein. Aber möglicherweise handelt es sich um ein anderes Europa als es die Repräsentanten der Brüsseler Gruppe vorsehen. Dieses andere, tatsächlich offene, improvisierende, im ursprünglichen Sinn demokratische und in tausend Kooperationen sich entfaltende Europa kann nicht mehr erstickt werden…

*

Ein Kompromiss, heißt es, sei in Sicht. Wenn die Information stimmt, wird er nicht nur Griechenland „retten“, sondern auch die Europäische Union. Noch gilt Griechenland als das desolate Haus, für dessen gründliche Sanierung das Geld fehlt. Aber je länger der Schuldenstreit anhält, desto sichtbarer werden auch die Planungsfehler, Baumängel und Risse am 'Haus Europa'…
Fundsteller - 29. Mär, 20:54

What are we waiting for, assembled in the forum?

– The barbarians are due here today.

Why isn’t anything happening in the senate?
Why do the senators sit there without legislating?

– Because the barbarians are coming today.
What laws can the senators make now?
Once the barbarians are here, they’ll do the legislating.

(…)

Konstantin Kavafis (1863-1933)


WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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Zuletzt aktualisiert: 22. Jun, 00:49

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