Montag, 26. März 2018

WORTLISTEN

ALPHABET DES ALTERNDEN LESERS

Am Anfang war die Asthma-Attacke

Das Seiende verursacht mir Asthma.

(Cioran, Syllogismen der Bitterkeit, 1952)

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Atemnot Angstzustand Asphyxie

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Atemübung – der angenehme Apotheker beim Westbahnhof hatte ihm dazu geraten. Dieser Mann war eine Ausnahmeerscheinung. Wenn es seiner Kundschaft half, handelte er gegen sein Geschäftsinteresse.

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es ged scho es gedscho wieda es ged scho
(Attwenger, Sun, 2002)

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amertume – was für ein Wort, eine klangliche Achterbahnfahrt. Es beginnt im tiefen Schwarz des A – "schwarzbehaarte Mieder glanzvoll prächtiger Fliegen, die summend schwärmen…" (Rimbaud) –, holt im schneeweißen E zum Schwung aus und hebt ab zum absinthfarbenen Grün des U/Ü; zuletzt der unbetonte Auslaut – l'amertume de la vie

Die Bitterkeit des Lebens ist das Bedauern, nicht hoffen zu können, die Rhythmen nicht mehr zu hören, die uns dazu anregen, unsere Partie in der Symphonie des Werdens zu spielen.
(Gaston Bachelard, 1932)

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Ausnahmezustand – seit jeher, überall, man gewöhnt sich – nicht gern

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Auflistung – was alles und wer aller sich im Ausnahmezustand befand: der Planet Erde; die Kontinente, ein jeder auf seine Art; die Meere oder maritimen Müllhalden; die verschwindende Vogelwelt; der verbleibende amerikanische Präsident; diese digital getakteten und optimal vernetzten Einzelwesen am Rand des Nervenzusammenbruchs; der Nahe Osten; Europa, die Europäische Union… – nicht zuletzt Österreich mitsamt seinen Geheimdiensten.

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AMS – auch der österreichische Arbeitsmarktservice war in die Schlagzeilen geraten. Es war ja nicht so, dass es sich dabei um eine Lieblingsinstitution des alternden Lesers gehandelt hätte, aber was da augenblicklich im Gange war, verhieß nichts Gutes: das große Sparen an falscher Stelle – Ausgrenzung, Ausschließung, Aussetzung
– im neuen Stil.

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Amor fati – eine Grundbedingung für das Überleben unter 2018er-Bedingungen.

Amor fati: das sei von nun an meine Liebe. Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, will nicht einmal die Ankläger anklagen.
Wegsehen sei meine einzige Verneinung!
Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!
(Friedrich Nietzsche, 1881)

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Arturo Benedetti Michelangeli – ohne ihn ging in diesen Tagen und Wochen gar nichts

Franz Schubert, Klaviersonate in A-Dur, D 959 (1828)

[hier in einer Version Alfred Brendels]

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Ankommen – sich im Sinn einer Als-ob-Konstruktion einen Ankerplatz ausmalen, einen Quasi-Anfang machen, aufbrechen

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Achmatova

Vieles möchte, wenn ich mich nicht täusche,
Noch von meinem Mund besungen sein
(Anna Achmatova, 1942)

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Ausflug – vielleicht nach Annaberg. Doch lieber nach Athen? Ach was

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An die Arbeit. Für Österreich. – Es gab da neuerdings einen Kanzler, dessen Namen sich der alternde Leser nicht merken konnte oder wollte; nachdem es sich um keinen Namen mit A handelte, war es egal. Aalglatt war der und fallweise außerordentlich arrogant, dabei ein farbloses Bürschchen mit schwach entwickelter Stimme; ein Politik-Avatar, gespenstisch ausdrucks- und eigenschaftslos. (Macht der Leere, hatte Thomas Stangl dieses Phänomen genannt.) Er liebte es Armutsgefährdeten und Alten, Alleinerzieherinnen mit geringem Einkommen, Arbeit- und Asylsuchenden zu sagen, wo es lang ging.

Der Leser war im Ausgangsbereich eines Amtsgebäudes auf sein Antlitz gestoßen. Es prangte auf einem Plakat mit dem banalen Stakkato:
An die Arbeit - Punkt - Für Österreich - Punkt.

An-die-Arbeit

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Appell – Der Satz auf dem Plakat war zugleich als kanzlerhaftes Bekenntnis und als Aufruf gedacht, er richtete sich an alle. Aber warum speziell für Österreich arbeiten? Warum nicht beispielsweise für Europa – das liefe dann auf keinen Punkt, sondern ein Liniengeflecht hinaus –, oder für die Stadt, in der man sich aufhält, oder für das soziale Gefüge, dem man angehört und das mit autoritären Gesellschaftsentwürfen nichts anfangen kann. Warum nicht für ein Allgemeinwohl arbeiten, das nicht nur gelernten Österreichern oder – unappetitlich ausgedrückt – Autochthonen vorbehalten bleibt?

Der Leser jedenfalls empfand dieses Plakat als symptomatisch für die Epoche und ihre schalen Helden. Es erschien ihm als

Augenauswischerei

anmaßend, anrüchig, aufdringlich

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Adjektivdiät!

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Arbeit – konnte vieles sein, das Höchste, Anregendste oder das Niederschmetterndste. André Breton hatte es vor neunzig Jahren so ausgedrückt:

Nach alldem soll mir niemand von Arbeit sprechen, ich meine vom moralischen Wert der Arbeit. Ich bin gezwungen den Gedanken der Arbeit als materielle Notwendigkeit anzuerkennen und in diesem Sinne bin ich entschieden für ihre beste, gerechteste Aufteilung. Genug, dass mich die traurigen Verpflichtungen des Lebens dazu zwingen, aber dass man von mir verlangt, daran zu glauben, die meine oder die der anderen zu verehren, niemals! Ich wiederhole es, lieber gehe ich durch die Nacht und halte mich dabei für den, der im Licht geht.
Es nützt nichts lebendig zu sein, wenn man arbeiten muss.
(André Breton, Nadja, 1928)

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autoritäre Driften… – in Europa…

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Anders denken, leben, es zumindest versuchen

Philosophie wäre demnach die kritische Arbeit des Denkens an sich selber, die auch als Askese bezeichnet wird. Denken und Wahrnehmen ist nicht An-Eignung, sondern ein Denken, das sich in einem permanenten Prozess des Sich-von sich-Lösens vom Fremden und Anderen in Frage stellen lässt. Eine Ethik als Ästhetik der Existenz versteht sich als Analyse und Ausarbeitung neuer Formen des Selbstverhältnisses, als Suche nach Möglichkeiten des Anders-lebens, die einen Ort des Widerstands gegen die individualisierenden und totalisierenden Mechanismen moderner Macht darstellen.
(Lexikoneintrag, 2004)

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An-Denken – Wir wissen, dass diese Gedanken, die uns miteinander verbinden nicht einfach Gedanken wie alle anderen sind; wenn ich beispielsweise nicht aufhören kann, an deine Ankunft oder deine Abfahrt – oder dein Verschwinden – zu denken, oder wenn mir unser Streit wieder in den Sinn kommt oder ich dir einen Liebesantrag mache. Solche Gedanken unterscheiden sich von 'gewöhnlichen' Gedanken, sie haben eine einzigartige Intensität und Vitaltät…

Frédéric Worms hat ein schönes Buch zum adressierten Denken geschrieben: "Das Ziel dieses Buches ist einfach: Es besteht darin zu enftalten, warum 'an jemanden denken' nicht dasselbe ist wie 'etwas' denken, dass es aber zugleich auch keine Ausnahme für das Denken oder das Leben darstellt. Vielmehr ist es ein Modell des Denkens und eine Orientierung im Leben."

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Gennadi Ajgi – dieser liebenswerte, in russischer Sprache schreibende tschuwaschische Dichter. Vor einigen Jahren, knapp vor seinem Tod, war er in Wien und erzählte von seiner unbehausten Zeit in Moskauer Bahnhöfen…

"In keiner sprache / bin ich vonnutzen."

Ajgis kürzestes Gedicht Genügsamkeit des Selbstlauts! besteht nur aus einem einzigen lang gezogenen A und entfaltet seine Wirkung zwischen den Schulterblättern

"FELD FRÜHLINGS

den verstand deckt dort das wunder zu"

(1986)

Ajgi_Poesie

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der A-Plan sah noch vor, von affirmativer Ästhetik, Henri Pichettes Apoèmes – "logique syncopée, mot-à-motrice, belle et rebelle…" – und nicht zuletzt von (Jean-Paul) Auxeméry zu erzählen.

Andermal ist auch ein Tag.

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

filmbilder_leser

DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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Zuletzt aktualisiert: 22. Jun, 00:49

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