Montag, 31. Dezember 2012

SITZGELEGENHEITEN

Der Werkstattsessel

Man kann sich das Leben als endlichen Ablauf von Sitzakten vorstellen. Zwar verbringen wir auch viel Zeit im Stehen, Gehen, Rennen oder Liegen, die meisten wesentlichen Dinge aber erledigen wir im Sitzen. Wir gehören einer Kultur an, die es geschafft hat, die sitzende Tätigkeit vor flimmerndem Bildschirm zur Norm zu erheben. Die Zeit der Gelegenheitssitzer ist damit abgelaufen, wir sind allesamt Kettensitzer geworden. Jeder Tag stellt eine mehr oder minder glückende Serie von Sitzerfahrungen dar. Und es ist nicht ganz auszuschließen, dass unmittelbar vor unserem letzten Schnaufer die Sitzgelegenheiten unseres Lebens wie ein Film vor unserem inneren Auge ablaufen.

Da wären sie dann alle versammelt: die Sitzmöbel der Kindergärten, die Schulbänke, die wir gedrückt haben wie sie uns, die Sessel in den Wartezimmern und die Zahnarztstühle, die Sitze der Straßenbahnen, Autobusse und Regionalzüge, die Fauteuils und Sofas aus dem familiären und freundschaftlichen Umfeld, die Bestuhlungen der Kinos und Theater, die Flugzeugsitze und die unvermeidlichen weißen oder dunkelgrünen Plastiksessel in den Gastgärten der Cafés, die uns in Kopenhagen ebenso begegnen wie in Katalonien oder auf Korfu.

Die bloße Erinnerung an diese Sitzmöbel bewirkt überraschende Muskelkontraktionen. Wir sehen sie nicht bloß mit unseren Augen, sondern auch mit den Bandscheiben und Rückenwirbeln. Die Sitzgelegenheiten unserer Lebens standen ja nie untätig in der Gegend herum, sondern waren höchst aktiv. Wenn wir erschöpft vor sie hintraten, wirkten sie einladend und freundlich, aber sobald wir uns auf sie niederließen, zeigten sie uns ihre ganz eigene Art der Machtausübung. Die Sitzgelegenheiten haben uns geprägt. Und zwar nicht nur oberflächlich, wie es der Rattansessel tut, wenn er sein geflochtenes Muster in die Haut einschreibt, sondern tiefer, knochentief.

Rainer Maria Rilke erzählt in seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge die Geschichte von einem Lehnstuhl, der ihm in einem gemieteten Zimmer in Paris begegnete. Er war bereits ein wenig abgewetzt und im oberen Teil der Rückenlehne war eine Mulde spürbar, die der Hinterkopf des Vormieters gegraben hatte. Rilke schauderte vor dieser Stelle zurück. Der Umstand, dass sie exakt zu seiner eigenen Kopfform passte, bereitete ihm tiefes Unbehagen. In der Folge entwickelte sich zwischen ihm und dem Lehnstuhl ein stiller und gnadenloser Kampf. Rilke weigerte sich lange, sich anzulehnen und erfand alle möglichen Schräglagen und Verrenkungen, um nur ja nicht so sitzen zu müssen wie der Stuhl es von ihm forderte. Wer von den beiden zuletzt den Sieg davontrug, ist klar.

Es ist ein bemerkenswerter Zufall, dass das englische Wort ,chair‘ für Stuhl gleich geschrieben wird wie das französische ,chair‘ für ,Leib‘ oder ,Fleisch‘. Eine etymologische Verwandtschaft zwischen den beiden besteht definitiv nicht. Der ,Leib‘, wie ihn die Philosophen verstehen, ist etwas anderes als der Körper, er ist eine Art übergeordnetes Wahrnehmungssystem, dem alle Sinnesorgane zuarbeiten, der sich aber selbst, indem er zugleich der inneren und der äußeren Welt angehört, der vollständigen Erkenntnis entzieht. Jedes Mal, wenn ein Mensch sich setzt, tritt also das Leib-Mysterium mit dem Sessel-Mysterium in einen vielschichtigen und rätselhaften Dialog ein. Anziehungen und Abstoßungen überschneiden sich darin auf unberechenbare Weise, zuletzt läuft alles auf wechselseitige Durchdringung hinaus. So gesehen ist jeder Stuhl ein ,Leibstuhl‘ und wahrscheinlich befindet sich jeder Mensch unbewusst auf der Suche nach seinem seelenverwandten Sitzobjekt.

*

Solche oder ähnliche Gedanken dürften mir durch den Kopf gegangen sein als ich vor einigen Wochen das WerK in der Wiener Kenyongasse betrat. Als ich die paar Stufen ins Souterrain hinunterstieg, kamen mir meine bisherige Sitzbiographie und die Jahrzehnte lange Sesselsuche auf einen Schlag zu Bewusstsein:

Da stand er. Stumm und selbstbewusst. So selbstverständlich, als wäre er seit jeher an diesem Platz gestanden.
„Da bist du ja endlich“, schien er zu sagen, und ich dachte im gleichen Moment dasselbe.
In konzentrischen Kreisen näherte ich mich ihm an. Er erschien alterslos, konnte vor drei, fünf oder sieben Jahrzehnten gefertigt worden sein oder gerade erst vor einer Stunde. Das war nicht bloß ein Sessel, das war eine Sesselpersönlichkeit. Er war präsent, indem er sich zurücknahm. Nicht dieses ,Seht her! ich bin ein Designer-Stuhl‘, nichts Parfümiertes haftete ihm an. Er war, was er war, gerade heraus und ohne Firlefanzen.

Er bestand ausschließlich aus gestandenen Materialien: Rundeisen, Holz und Leder. Diese drei sorgten für den Eindruck der Bodenständigkeit. Aber es gab zugleich die entgegengesetzte Strebung: Die Lehnen-Konstruktion war in Bodennähe an die beiden hinteren Sesselbeine geschweißt, was das Objekt sympathisch fragil und schwebend erscheinen ließ: glückendes Zusammentreffen von Zartheit und Robustheit.

Die ungewöhnliche Lehnen-Konstruktion zwang den Sitz-Debütanten, sich eher vorsichtig auf ihm niederzulassen. Sobald man aber saß und sich zum ersten Mal mit ganzem Gewicht der Lehne überantwortete, erkannte man die Stabilität und hundertprozentige Verlässlichkeit.

Er war übrigens höher als seine Artgenossen. Statt der gängigen 45cm befand sich seine Sitzfläche 52cm über dem Boden. Dadurch war der Doppelknick, den sich der sitzende Mensch im Bereich der Kniekehlen und der Körpermitte beibringt, etwas abgeschwächt. Im Vergleich zur normalen Sitzhaltung war hier der Bewegungsspielraum größer, was gerade den nervöseren Zeitgenossen sehr entgegenkommen dürfte. Auf ihm sitzend näherte man sich dem Objekt auf der Tischplatte, egal, ob es sich um einen gefüllten Teller oder eine zu reparierende Uhr handelt, aus leicht verschobenem Blickwinkel. Und ja, tatsächlich: Auf ihm zu sitzen bedeutete einen Zuwachs an Wachheit, ohne dass die Gemütlichkeit darunter zu leiden gehabt hätte.

Als ich mich wieder von ihm erhob und mich darüber freute, dass er mir nun auch offiziell und mit Namen vorgestellt wurde, war mir klar, dass meine Sitzwelt nach dieser Begegnung nicht mehr dieselbe sein würde. Jeder Sessel trägt ein besonderes anatomisches, soziales und ästhetisches Wissen in sich, dieser hier schien über etwas wie Weisheit zu verfügen, die auch mit produktionstechnischen Abläufen wie beispielsweise jenen des Schreibens gut vertraut war. Ihn wollte ich zum Freund.

*

Vor einigen Wochen ist der Werkstattsessel von Katja und Werner Nussbaumer bei mir eingezogen. Noch ist er allein, was ein kleines, zugegebener Maßen luxuriöses Problem aufwirft: Ich kann nicht auf ihm sitzen und ihn zugleich betrachten. Dazu bräuchte es einen zweiten, und überhaupt bräuchte es, einem Satz von Henry David Thoreau folgend, drei: einen für die Einsamkeit, zwei für die Freundschaft und drei für die Gemeinschaft.

Andererseits käme ich mir inzwischen ein bisschen schäbig vor, einen anderen seiner Art zu besitzen. Wenn man genau schaut, werden am Sitzleder erste Falten sichtbar; die dunkelbraune Polsterung hat begonnen, die Landkarte meiner Unruhe zu zeichnen. Das ist, wenn man so will, die Mimik des Sessels und seine leise Art der Kritik. Ansonsten trägt er die Belastung, die ich für ihn darstelle, in eindrucksvoller Gelassenheit und Würde. Wir haben uns darauf eingestellt, miteinander zu altern. Er ist mehr als ein Sessel, der Werkstattsessel, eine Seele von Sessel.

Fundstelle: WerK Möbelbau, Kenyongasse 20/3, 1070 Wien

Werkstattsessel_Planskizze_werK_Foto: B. K.

Donnerstag, 9. Februar 2012

FUNKENFLÜGE

Frechdachse an die Macht

An einem Freitag, spätnachts, der Blick war bereits auf Streumodus umgestellt, befand ich mich in einem U-Bahn-Waggon der Linie 2 am Weg von der Taborstraße zum Volkstheater. Beim ersten Zwischenstopp, Station Schottenring, stellte sich unerwartete Aufmerksamkeit ein. Mein Blick war mit einer handgeschriebenen Aufschrift kollidiert: Frechdachse an die Macht. Der Schriftzug war zirka zwei Meter lang und einen halben Meter hoch. Er befand sich knapp über Kopfhöhe der am Bahnsteig wartenden Leute und passte exakt in eine der glänzend weißen Kunststoffplatten, mit welchen die neu errichtete Station ausgekleidet wurde. Er war zugleich Schrift und Zeichnung oder markierte den Ort, an dem beide ineinander übergehen. Der Satz musste mit einem fetten Marker aufgetragen worden sein, war also nicht aufgesprüht, aber er schien seinerseits zu sprühen. Er versprühte die Freude der Person, die ihn dort hingezeichnet hatte. Ich hatte den Eindruck, dass der Schreiber oder die Schreiberin zur „Tatzeit“ nicht allein unterwegs war. Der Spaß, den die anonymen Künstler bei der Aktion gehabt haben mussten, war in bemerkenswerter Intensität auf mich, den zufälligen Betrachter ihres Werks, übergesprungen.

Beim ersten Buchstaben des dritten Wortes musste es eine Irritation gegeben haben. Im bestimmten Artikel vor dem Wort ,Macht‘ gab es eine Ausbesserung. Sie ließ den Buchstaben ,d‘ wie ein kryptisches Zeichen aussehen. Handelte es sich um einen fehlgeleiteten Impuls beim Schreiben oder um eine von außen kommende Störung, z. B. den Auftritt eines Ordnungshüters oder eine akustische Drohung aus dem Lautsprecher? Noch bevor ich den Graffito genauer in Augenschein nehmen konnte, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Von diesem Moment an war ich auf das innere Bild angewiesen, das ich von dem spontan gefertigten Kunstwerk unwillkürlich angefertigt hatte.

Frechdachse an die Macht. Seit jeher hege ich große Sympathie für die namenlosen Aktivisten der street art. Deutlich erinnere ich mich an die Eröffnung des Wiener Museumsquartiers im Spätsommer 2001. „Alles schön und gut“, befand die Gruppe, mit der ich unterwegs war, „aber wann kommen die Graffitimaler?“ Die repräsentative Anlage musste noch entsterilisiert, vermenschlicht werden. Angesichts des frisch renovierten Theseustempels im Volksgarten wandelte sich die Frage in ein verzweifeltes Stoßgebet. Wenn es im Bekanntenkreis zu diesbezüglichen Meinungsverschiedenheiten kommt, schrecke ich nicht davor zurück, weitläufige Argumentationsbögen zu spannen:

Die Höhlenbilder von Lascaux gelten bekanntlich als Geburtsstätte der Kunst. Hätten sich die malenden Höhlenbewohner von den Warnungen ihrer nicht-malenden Zeitgenossen abschrecken lassen, wäre der gesamte Zivilisationsprozess anders verlaufen. Ein Lascaux-Experte kommentierte die jungsteinzeitliche Sensation mit folgenden Worten: „Mit einem Male stellte die Kunst dem materiellen, nützlichen Leben diese nutzlosen und verführerischen Zeichen gegenüber, die, aus Gemütsbewegung geboren, sich an das Gemüt wenden.“ Anders ausgedrückt: Vor ungefähr 20.000 Jahren hatte eine fruchtbare Spaltung stattgefunden, durch die der Mensch sich aus dem Bloß-Notwendigen befreit und, trotz der prekären Rahmenbedingungen, einen energetischen Überschuss freigesetzt hatte, der für kultische Handlungen oder ästhetische Eingriffe in die unmittelbare Umgebung genutzt werden konnte oder musste.

Der Zeit ihre Kunst. In einer Epoche, in der alles Sichtbare und Hörbare von tendenziell freudlosem Konsumismus und seiner charakteristischen Lärmentwicklung kontaminiert ist, braucht es diese Art Schachtkunst. Nicht alle Gemütsregungen lassen sich an Konsumationen binden, vieles bleibt unbeantwortet. Diesem Mangel an Antworten entspricht der rettende Überschuss, der dazu drängt, das Formlose, Nicht-Greifbare sichtbar zu machen. So entstanden diese unwahrscheinlichen, mit geschickten Händen und leuchtenden Farben fabrizierten Öffnungen in den Mauern und Tunnels der Jetztzeit. So kam es, dass sich dem gebeutelten U-Bahn-Benutzer dreidimensionale Animationen darbieten, wo es normalerweise nur noch Schwarz zu sehen gäbe. Und so haben die Frechdachse in das Erscheinungsbild der U-Bahn-Station Schottenring eingegriffen, den blendend-weißen Hintergrund ein wenig abgeschattet um dadurch eine andere Lichtquelle sichtbar werden zu lassen.

Frechdachse an die Macht. Die verspielte Parole hatte sich in mir festgesetzt und mich vor ein Deutungsproblem gestellt: Wer genau begehrte hier Zugang zur Macht? – Die Frechdachse, gut. Aber waren es nicht gerade die gegenwärtig Mächtigen, die sich durch fast übermenschliche Frechheit auszeichneten? Gorbach, Schüssel, Strache, Grasser, Strasser, das ganze fehlgewählte Konsortium der endlos wiederholten Unschuldsvermutung? Diese Leute, so meine vorläufige Antwort, zeichnen sich zwar durch Frechheit aus, nicht aber durch den Dachs. Ihrer Gier mag etwas Animalisches anhaften, keinesfalls aber würde ein sprachempfindlicher Mensch aus dem street art-Umfeld eine Tiermetapher dafür verschwenden. Er würde etwas Abstraktes wählen wie den Suffix ,-ling‘ in ,Frechling‘ oder einen Vergleich aus der Dingwelt wie zum Beispiel ,Beutel‘ oder ,Sack‘… – Dann wäre also der Dachs der Garant für die Qualität jener anderen Macht, die, buchstäblich von unten her, aus dem U-Bahn-Schacht an die Oberfläche drängt? Justament Grimbart, dieser nachtaktive Geselle mit seiner rüsselartigen Schnauze und dem schwarz-weiß gestreiften Fellbesatz am Kopf?

Der entscheidende Zuwachs an Erkenntnis stellte sich erst ein, als ich meinen Unterstand erreicht hatte und zielsicher zwei schmale Bücher von Emmanuel Hocquard aus einem Bananenkarton zog. Da war er: meles meles, der Europäische Dachs aus der Familie der Marder (Mustelidae), in voller Pracht und als des Rätsels Lösung.

Der französische Dichter Emmanuel Hocquard versteht es wie kein anderer, die Schriften des Philosophen Ludwig Wittgenstein mit jenen amerikanischer Krimiautoren so zu kreuzen, dass eine unvergleichliche, ebenso dichte wie leichte poetische Prosa daraus entsteht; im deutschsprachigen Raum führen seine kriminalistischen Ermittlungen im Feld der Sprache immer noch ein Schattendasein. Er war es, der den Dachs (frz. blaireau) nicht nur zum Namensgeber einer literarischen Gattung (le blaireau), sondern auch einer poetischen Praxis (blaireauter) gemacht hat. Das Zeitwort ,dachsen‘ weist zwar gewisse Ähnlichkeiten mit dem deutschen ,flachsen‘ (Spaß machen, sich necken) auf, geht aber weit darüber hinaus. Hocquards Dachsereien gleichen eher dem von H. C. Artmann und Konrad Bayer propagierten 'poetischen Act', sofern man alles Laute, Breitenwirksame, Aktionistische daraus abzieht:

„Von außen gesehen ist der Dachs: a) bis zur Lächerlichkeit nutzlos; b) skandalös privat; c) auf übertriebene Weise spekulativ und experimentell.
Für den, der ihn macht, ist der Dachs: a) notwendig; b) eifrig; effizient. Er antwortet auf eine Dringlichkeit. Die plötzliche Befragung und die fast gleichzeitige Beantwortung. „Manchmal findet man die Lösung einer Aufgabe wie man eine Nuss knackt.“ (Ed McBain, The Mugger)
Der Dachs lässt sich schlecht definieren. Es ist einfacher zu sagen, was er alles nicht ist, als zu erklären, was er ist.
Auch wenn man ihm häufig die Form eines Objekts (beispielsweise eines kleinen Buches) verleiht, ist der Dachs kein Objekt.
Ein Dachs vollzieht sich zwischen ,Ich‘ und ,Du‘. Er entzieht sich der Kontrolle des ,Er‘.
Dachsen ist Schwarzarbeit.
Ein Dachs hat keinen Autor. (Ein Autor ist immer ein ,Er‘).
Meine Dachse sind nicht signiert (manchmal sind sie es); sie sind adressiert.
Ein Dachs ist vertraulich. Anders ausgedrückt, er ist ein Zeichen des Vertrauens.
Die Lebensdauer eines Dachses ist zufällig. Er ist wesentlich ephemer. ,Ein Augenblick tiefster Überzeugung‘.
Statt auf der großen Ringstraße hält sich der Dachs im Souterrain auf.
Der Dachs ist dem Affekt sehr nahe. Er ist eine Fabrik zur Verarbeitung von Affekten. Ich habe mehrfach betont, wie viele Schwierigkeiten es bereitet, Affekte und eine Passage vom Affekt zum Konzept zu betrachten, ohne dabei Affekt und Anekdote in Beziehung zu setzen. (Ich habe auch gesagt, dass ich ein Konzept als eine Anekdote des Denkens betrachte.)
Der Dachs, für sich genommen, ist ebenfalls eine Anekdote. Ein kleines, friedliches und fröhliches Laboratorium, wo ich in aller Ruhe einen Affekt einfangen und beobachten (und dir zum Beobachten geben) kann.“ (*)

Die unerwartete Einsicht in den Doppelcharakter des Frechen, das ebenso gut Verachtenswertes (gierig, rücksichtslos) wie Liebenswertes (wild, tollkühn, ohne Scheu) bedeuten konnte, und das doppeldeutige Wesen des Dachses als einer bedrohten Tierart und einer poetischen Vollzugsform hatten mich beflügelt. Ich wollte die Aufschrift fotografieren und machte mich wieder auf den Weg. Die Überwachungskameras haben mich als einen Einzelnen registriert, aber in Wahrheit befand sich Emmanuel Hocquard an meiner Seite; vor, zwischen und hinter uns wuselte flinkes Dachsgetier. Der Schriftzug war freilich verschwunden, die rechteckigen Kunststoffplatten glänzten in frechem Weiß. Was soll‘s, beruhigte ich mich, die von den Wiener Verkehrsbetrieben engagierten Reinigungsfirmen stehen unter Erfolgsdruck und das Verschwinden derartiger Straßenkunst-Objekte gehört zum Spiel.

Was genau war es, das mir in dieser Nacht von Freitag auf Samstag zuteil wurde? Ein Epiphanie-Erlebnis? Das wäre zuviel gesagt. Ein Mysterium? Wenn ja, dann nur im Sinne einer Bestätigung der berühmten Mutmaßung von Joseph Beuys: „Die Mysterien finden auf den Bahnhöfen statt.“ Es war ein Funkenflug, nicht mehr und nicht weniger. Ein Funkenflug, der u.a. eine Handvoll junger Graffitimaler, einen Dichter, einen zu Unrecht ignorierten tierischen Nachbarn und vereinzelte U-Bahn-Passagiere kurzfristig zu einem Stromkreis zusammengeschalten hat. Es war ein Dachs. Eben der Frechdachs, der für eine ganz kurze Zeitspanne an die Macht gelangt war.

*
Fundstellen:
Emmanuel Hocquard : Gazette de la villa Harris n° 15, in: cipM (éd.), ‘‘‘Le Cahier du Refuge‘‘‘ n° 203, juillet 2011; centre international de la poésie Marseille.
Emmanuel Hocquard : ma haie, Un privé à Tanger II, Paris 2001, P.O.L..
(* Übersetzung der Hocquard-Passage: Bernhard Kellner)

Samstag, 12. November 2011

VERSCHIEBUNGEN

Allchanged_arab

All changed, changed utterly:
A terrible beauty is born.

ins Arabische übertragen von Gegourta Alilouche

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

filmbilder_leser

DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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