Samstag, 29. Oktober 2011

UMBRÜCHE

All changed, changed utterly:
A terrible beauty is born.

Im April 1916 schrieb William Butler Yeats Easter, 1916. Es gilt als „War Poem“ und „politisches Gedicht“, zumal es sich auf Easter Rising, den Osteraufstand der irischen Unabhängigkeitsbewegung und auf den Ersten Weltkrieg bezieht, doch diese Bezeichnungen greifen zu kurz.

Zwar setzte sich Yeats, der sich selbst als Nachfolger der englischen Dichter William Blake und Percy Bysshe Shelley sah, nachdrücklich für eine unabhängige irische Literatur ein – insofern war er ein politischer Dichter. Aber ebensosehr war er Mystiker, Mythologe, Skeptiker und, wenn es um Beziehungen zu Frauen ging, leidenschaftlicher Obsessionist. Er galt als Seismograph gesellschaftlicher Veränderungen – in dem späteren Gedicht The Second Coming sah er in frappierender Klarheit die herannahenden Nazi-Greuel voraus –, trotzdem lag ihm noch in den dramatischesten Phasen des Krieges John Keats' Lamia näher als die aktuellen Schlagzeilen der Weltpresse.

Easter, 1916 beschreibt einen gewaltigen Umbruch – den alles erschütternden Einschnitt in die sonst eher ruhig verlaufenden Situationsabfolgen des Dichterberufs. Immer mehr seiner Freunde und Freundinnen schließen sich der irischen Unabhängigkeitsbewegung an, Yeats beobachtet sie aus kritischer Distanz, ihr Dogmatismus schreckt ihn ab.

Easter Rising, die Besetzung zuerst des Hauptpostamts, später der Innenstadt von Dublin und die überraschende Proklamation von Irlands Unabhängigkeit an den Osterfeiertagen 1916, führt geradewegs in die Katastrophe: Großbritannien setzt zum massiven Gegenschlag an, martial law, es gibt mehr als tausend Tote. Unter ihnen befinden sich viele Weggefährten Yeats, größtenteils Leute, die er von seinem Engagement für die Irische Literarische Gesellschaft kennt. Aber auch Yeats Lieblingsfeind befindet sich unter den Opfern, der von ihm tief verachtete Gatte seiner Geliebten Maud Gonne:

He, too, has resigned his part
In the casual comedy;
He, too, has been changed in his turn,
Transformed utterly:
A terrible beauty is born.


Der Osteraufstand versetzt Yeats in einen Zustand völliger Perplexität: schlagartige Aussetzung aller Gewissheiten. Er will über die Ereignisse schreiben, den ermordeten Gefährten ein Denkmal setzen, aber wie? Aus welcher Positionierung? Aus welcher Perspektive?

„Der Trick in Easter, 1916 liegt darin, die Rebellen zwar unsterblich zu machen, aber nicht als abstrakte Helden, sondern als Agenten der Veränderung.“ (Majorie Perloff) – Yeats geht es weniger um den Gehalt oder die zeitgeschichtliche Einschätzung des abrupten Wandels, sondern um seine besondere Form, seinen Ereignischarakter.

Zuletzt werden aus dem Gedicht nicht nur die Namen der ermordeten Freunde sprechen, sondern alle Schichtungen von Yeats Persönlichkeit: Der (Zahlen-)Mystiker hat das Datum des Beginns der Osteraufstände, den 24. 4. 1916, in einen 'Bauplan' transformiert, der Mythologe hat das feine Netz aus Querverweisen gespannt, der Skeptiker hat auf Distanzierugen geachtet und die heikle Frage gestellt: Was it needless death after all? (Die Geschichte hat gezeigt, dass es das nicht war.) Und der Obsessionist hat durch die indirekte Bezugnahme auf Maud Gonne, die unversehens zur Witwe geworden ist, obendrein ein Liebesgedicht daraus gemacht.

All changed II changed utterly

Wenn es einen Ort gibt, an dem Yeats Position im Gedicht festgemacht werden könnte, dann ist es der Hiatus zwischen dem doppelt platzierten Wort ,changed‘. Derselbe Abgrund klafft in der folgenden Zeile, im Zwischenraum, der die Wörter ,terrible‘ und ,beauty‘ trennt: Nicht-Ort, in dem der Schrecken und das Schöne in einer paradoxen Bewegung zugleich auseinanderdriften und sich auf befremdliche Art überlagern.

Das Gedicht meint beides: das ungläubige Starren auf das Schrecken erregende Ereignis und ein hartnäckiges Beharren – nicht zuletzt auf die Schönheit, die das ,Jahrhundertgedicht‘ des Nobelpreisträgers bis heute widerspiegelt. Es besingt zugleich Ende und Neubeginn, den Tod und, insofern es sich auf Ostern bezieht, die Auferstehung. Vor allem aber besingt es das beunruhigende Gewimmel und Gemurmel, das sich zwischen diesen Gegensätzen abspielt, den schaurig-schönen Schwellenbereich zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht.

We make out of the quarrel with others, rhetoric, but of the quarrel with ourselves, poetry. (W. B. Yeats in Mythologies)

*

95 Jahre später, im Spätherbst 2011 feiert Yeats Gedicht eine Aufsehen erregende Wiedergeburt: als markanter Titel einer bemerkenswerten Kunst-Biennale und als Performance in den Straßen und am Bahnhofsvorplatz von Lyon; Louise Kiffer hat Easter, 1916 ins Französische übertragen – Pâques, 1916:

Tout à changé, completement changé :
Une terrible beauté est née.


Easter, 1916, das Gedicht mit dem berühmten Oxymoron des Schrecklich-Schönen scheint auch die heutige Situation zu betreffen: Ungläubig starren wir auf Ereignisverkettungen, die unsere Lebenswelten und Gewohnheiten grundlegend verändern werden. Yeats Gedicht setzt der Unberechenbarkeit gegenwärtiger Krisen dieses vielschichtige, in sich widersprüchliche, trotzdem deutliche und enorm starke Zeichen entgegen…

*

Und es begab sich, dass am 28.10.2011 ein Dichter, Michael D. Higgins, zum 9. Präsidenten der Republik Irland gewählt wurde.

Donnerstag, 27. Oktober 2011

FRAGEZEICHEN

Drei neue Bücher über die Liebe (1)

„Die Philosophie spricht heute nicht mehr über die Liebe, oder nur selten. (…) Die Philosophen haben sie faktisch aufgegeben, sie ihres Begriffs entledigt und sie schließlich an die dunklen und beunruhigenden Ränder ihrer zureichenden Vernunft verwiesen – zusammen mit dem Verdrängten, dem Ungesagten und dem, was man sich nicht eingestehen will.“ (Jean-Luc Marion)

Die letzten großen philosophischen Bücher über die Liebe, soweit ich es überblicken kann, waren Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe (1977/1984), Les vertus et l'amour von Vladimir Jankélévitch (1986), und Julia Kristevas Geschichten von der Liebe (Histoires d'amour; 1983/89).

Wie kommt es, fragt Marion, dass ausgerechnet die Philosophie, die die Liebe in ihrem Namen trägt, über mehrere Jahrzehnte nichts dazu zu sagen wusste? Er zog mehrere Möglichkeiten in Erwägung: Die erste wäre, dass gerade Philosophen sie nicht mehr erfahren und deshalb außerstande sind, sie zu benennen. Die zweite und dritte gehen von einer gewissen Furcht und tiefen Unlust aus, dieses „meist prostituierte Wort“ im philosophischen Vokabular zu belassen.

Also war die Liebe der Inflationierung hoffnungslos preisgegeben; sofern sie nicht von ideologischen oder religiösen Zusammenhängen einvernahmt wurde, landete sie auf der massenmedialen Müllkippe. In TV-Talkshows und dem allgegenwärtigen Psychogeschnatter braucht sie nicht weiter hinterfragt zu werden. Dort wusste man seit jeher, was Liebe war und was nicht, man kannte sie in- und auswendig, und es ging nur noch um Tipps, wie sie optimiert oder ihr Ertrag vervielfacht werden könnte.

Inzwischen scheint sich das geändert zu haben, Marions Befund hat seine Gültigkeit verloren. In den Buchhandlungen findet man wieder von Philosophen verfasste Bücher über die Liebe. Dabei fällt auf, dass sie erstens aus Frankreich kommen, und, zweitens, in Format und Ausstattung den auflagenstarken Weckrufen zu mehr zivilgesellschaftlichem Engagement, wie z.B. Stéphane Hessels Empört Euch!, ähneln. Führt die kommende Rebellion etwa die Liebe im Schilde?

Jean-Luc Marion, ein prominenter Vertreter der neuen Phänomenologie aus Frankreich, publizierte vor einiger Zeit sechs „Meditationen“ zum Phänomen des Erotischen (Le phénomène erotique, 2003/11), die, auch wenn sie die Liebe nicht explizit im Titel tragen, nichts anderes im Sinn haben. Alain Badiou brachte in Anlehnung an Jean-Luc Godards gleichnamigen Film sein Lob der Liebe (Eloge de l‘amour, 2009/11) heraus und Jean-Luc Nancy veröffentlichte seinen Vortrag über Die Liebe, übermorgen (L‘amour, après-demain, 2008/11).

Die den Publikationen zugrunde liegenden Herangehensweisen könnten verschiedener nicht sein. Jean-Luc Marions Produktionsgeste ist monologisch und still: Ein Mann (allein) denkt lebenslang über Gabe und Liebe nach und veröffentlicht Teilergebnisse. Nancy dagegen spricht seinen Monolog laut und vor Publikum: Ein Mann (allein) hält einen Vortrag und lässt ihn transkribieren. Badiou findet schließlich zum Dialog: zwei Männer, Badiou selbst und Nicolas Truong, begeben sich auf eine Bühne und diskutieren, was Liebe unter den Bedingungen gegenwärtiger Ratlosigkeit noch ist oder sein könnte.

Die Liebe denken. Was ist darin impliziert? In einem ersten Schritt geht es um Bestandsaufnahmen dessen, was wir gegenwärtig unter Liebe verstehen. Im zweiten Schritt geschieht etwas wie Raumbereinigung: das Wort ,Liebe‘ muss freigelegt, d.h. von allen kitschigen oder ideologischen Konnotationen, allen Vorurteilen oder voreiligen Gewissheiten gereinigt werden. (Insofern dürfte dazu die phänomenologische Methode, die unmittelbar „zu den Sachen“ drängt und keine „Abbiegungen“ vom reinen Hineinschauen in das [vor] den Sinnen erscheinende Objekt duldet, gut geeignet sein.)

Erst im folgenden dritten Spielzug wird sich herausstellen, inwiefern diesen drei Büchern tatsächlich Werkzeugcharakter zukommt, ob es ihnen gelingt, den seit zig Jahrhunderten sich vollziehenden Metamorphosen der Liebe eine neue Facette abzugewinnen.

Die Fundstellen wollen die neuen Liebes-Bücher befragen, in loser Reihenfolge, beginnend mit dem neuesten. Sofern in diesem Herbst noch weitere Titel zu demselben Thema erscheinen, was zu erwarten ist, werden auch sie in die hier beginnende Blog-Meditation eingebunden…

Die Liebe muss neu erfunden werden, das weiß man. (Arthur Rimbaud)

Mittwoch, 5. Oktober 2011

EXISTENZFRAGEN

Der Lauf der Dinge wird durch das Finanzgeschehen bestimmt, und es wiegt darum umso schwerer, dass es höchst umstritten ist, nach welchen Regeln und mit welcher Logik sich hier Ereignisse mit Ereignissen verknüpfen. Gerade die so genannten Krisen der letzten Jahrzehnte haben die Frage veranlasst, ob sich auf den Schauplätzen der internationalen Finanzwirtschaft ein effizientes Zusammenspiel vernünftiger Akteure oder ein Spektakel reiner Unvernunft vollzieht.
Es ist jedenfalls nicht ausgemacht, ob der darin beschworene kapitalistische ,Geist‘ verlässlich und rational oder schlicht verrückt operiert.

Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals*, Zürich 2010/11, diaphanes

*) Das Buch zum Film, der nicht nur auf europäischen Straßen läuft und zu dessen Nebendarstellerinnen wir unversehens (?) geworden sind…

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

filmbilder_leser

DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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