Montag, 9. April 2018

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DER LEIDENSCHAFTLICHE LESER

spricht über Charles Baudelaire als Werkzeugmacher und
den nüchternen Rausch der Poesie als Überlebensstrategie


Baudelaire hat Geburtstag, den hundertsiebenundneunzigsten, schönes Alter, ein paar Sätze weit will ich ihm gratulieren. Der Dichter hat mich, seit ich ihn das erste Mal gelesen habe, nie mehr ganz losgelassen. Er befand sich im Raum, auch in den heikleren Situationen, und er war dabei, wenn ich tagelang durch die Straßen einer Stadt gestreunt bin um mich nach dem definitiv Unauffindbaren umzusehen. Facebook und Google wissen Bescheid: Ich bin regelmäßiger Baudelaire-Nutzer.

Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: C. B., Der Künstler und das moderne Leben, Leipzig: Reclam, 1990, S. 300 (Detail).

Wie es zum ersten Baudelaire-Lesen gekommen ist? Daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Das initiale Ereignis muss unter den Ablagerungen nachfolgender Leseereignisse begraben worden sein. Ich erinnere mich nur an die grässlichen deutschen Übersetzungen, an diese in ratternde Reimschemata gezurrten Verse, zwangsgoetheisiert, mit einem übergestülpten Pathos versehen, das den Originalfassungen völlig fremd war. Friedhelm Kemp, den großen Übersetzer, kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, mit der französischen Sprache war ich erst am Anfang. Ich musste eine Lesemethode entwickelt haben, die störende Elemente ausfiltern und die Worte in ihren Rohzustand zurücksetzen konnte.

Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal, hrsg. und übersetzt von Friedhelm Kemp, München-Wien: Carl Hanser Verlag, 1973; S. 11 (Detail).

Zur selben Zeit kamen die Aufsätze von Walter Benjamin ins Haus. Darin erschien Baudelaire als Seismograph, der das unter den Oberflächen der großen Städte spürbare Brodeln gewittert, minutiös registriert, aus seiner Formlosigkeit erlöst und intuitiv auf künftige Jahrzehnte, Jahrhunderte hochrechnet hat.
„Baudelaire hat ein Buch geschrieben, das von vornherein wenig Aussicht auf Publikumserfolg gehabt hat. Er rechnete mit einem Lesertyp, wie ihn das [die Fleurs du mal; Anm.] einleitende Gedicht beschreibt. Und es hat sich ergeben, dass das eine weit blickende Berechnung gewesen ist. Der Leser, auf den er eingerichtet war, wurde ihm von der Folgezeit bereitgestellt.“ (Benjamin, 1939)

C. B., Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal, Spleen und Ideal IV, Entsprechungen/Correspondances (1857)

Baudelaire lesen: Ein Mensch in der Masse mit fast monströs geschärftem Blick. Unter tausend beiläufigen Blickkontakten ergeben sich welche, die einen plötzlichen Aufschwung auslösen oder direkt in Richtung Abgrund führen … Chocrezeption – dieses unentwegte Ausbalancieren, Mischen, Neudurchmischen und Weiterverarbeiten prekärer Sinneseindrücke. Die Kellergewölbe des wahrnehmende Subjekts führen direkt in die Kellergewölbe der mehr oder minder zivilisierten Gesellschaft. Manchmal ist von dort aus ein Stück Himmel zu sehen.

Baudelaire, Die Blumen des Bösen: An Eine, die Vorüberging (À une passante), aus dem Französischen von Friedhelm Kemp; Münschen-Wien: Carl Hanser Verlag 1975

Jede einzelne Person aus der Masse stellt für sich genommen eine perzeptive Versuchsanordnung dar. Baudelaires Denken und sein vom Alltagsleben durchtränktes Schreiben haben, wie Yves Bonnefoy in seinem Buch Das Jahrhundert Baudelaires (La Siècle de Baudelaire, 2014) gezeigt hat, eine Revolution ausgelöst: enorme Ausweitung, neuartiges Fiebern im Gebrauch der Worte … jede Zeile drängt darauf, das Leben – nicht die Dichtkunst oder die Literatur – zu verändern.

Charles Baudelaire, À une passante, Tableaux Parisiens (1860) in: C. B., Les Fleurs du mal/Die Blumen des Bösen, Vollständige zweisprachige Ausgabe, hrsg. von Friedhelm Kemp, München-Wien: Carl Hanser Verlag, 1973.

Inzwischen blicken wir unter digitalen Bedingungen und durch neurowissenschaftliche Optiken auf solche zugleich individuellen und kollektiven Bebenwellen. Unsere Messungen tragen wir in Blogs oder die Schreibvorlagen sozialer Medien ein. Eines ist seit Baudelaire gleich geblieben: Aus dem Inneren der Erschütterung werden Sprache und Rhythmus generiert. Aus den Hohlräumen zwischen den dicht gedrängten Leibern am Bahnsteig dringen die Ausdünstungen, Gerüche, Geräusche des reizbaren Gesellschaftstiers. Im urbanen Durcheinander werden in jeder Sekunde unermessliche Potenziale von Aussagekräften freigesetzt. Man kann diese Erfahrungsschicht ignorieren oder als poetische, soziale Produktivkraft nutzen. Baudelaire hat es getan. Er musste vieles zugleich sein, um die seiner Epoche entsprechenden bildgebenden Verfahren hervorzubringen: Wahrnehmungs- und Stadtforscher, Kunstkenner und Kritiker, Zeichner und Musiker, Arzt und Patient, irrwitzig Liebender und haltlos Hassender, Abenteurer und Stubenhocker, alles in einem.

Charles Baudelaire, Intime Tagebücher, Raketen 11, Eigenschaften der literarischen Arbeit, in: C. B., Der Künstler und das moderne Leben, S. 325, Leipzig: Reclam Verlag 1990.

Mit den Jahren gesellten sich Marcel Proust, Paul Valéry, Gaston Bachelard, André Breton, Pierre Emmanuel, Henri Meschonnic, Florence Trocmé und gefühlte hundert weitere Namen dazu. Alles Leute, die auf je eigene Weise durch das Baudelaire'sche Werk hindurch agiert und produziert haben – das Netz oder der Vicious Circle. Dazu gehören auch Brigitte Fontaine, der kürzlich verstorbene Musiker Higelin oder Gerhard Fischer, später Mitbegründer der Gruppe Daedalus, der im September 1980 eine aufgelassene Wiener Bäckerei mit einer im besten Sinn befremdlichen Baudelaire-Installation bespielt hat. Sie alle berufen sich auf den simplen verbindenden Akt: eines seiner Bücher zur Hand nehmen, egal welches, schauen, ob der Funke überspringt und, wenn ja, an welcher Stelle, wie genau und wohin…

C. B., 'Mein entblößtes Herz. Tagbücher', Raketen, 16. Blatt (Detail); aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Frankfurt am Main: Insel, 1966.

Die Auswahl ist groß. Zur Verfügung stehen nicht nur die Fleurs du mal, deren 'Böses', wie Georges Bataille in Die Literatur und das Böse mutmaßt, bereits in der Schreib-Disposition und Selbstermächtigung des Autors begründet ist, auch der Spleen von Paris (hier beispielsweise Das zweifache Zimmer oder Schießplatz und Friedhof), die Tagebücher (Journaux Intimes) und Briefe, das Strandgut (Les Épaves), die kleinen Prosa-Fragmente oder längeren Erzählungen, Fanfarlo, die Essays zur zeitgenössischen Kunst, die Poe-Übersetzungen oder auch, warum nicht, Die künstlichen Paradiese.

C. B., 'Mein entblößtes Herz. Tagbücher', Raketen, 17. Blatt (Detail); aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Frankfurt am Main: Insel, 1966.

Übrigens kommen die darin erwähnten psychotropen Substanzen bei Baudelaire nicht sonderlich gut weg. Er durchlief die Laster – mit Haut und Haaren – und schüttelte sie überdrüssig ab. Um seiner Spur bis zum Letzten folgen zu können, musste er in jedem Moment sein schonungslosester Kritiker bleiben. Daher das Paradox: Der Baudelaire‘sche Rausch ist ein nüchterner Rausch. Rauschmittel würden diese fragile Übereinkunft von Konzentration und Zerstreuung, Aufschwung und Absturz nur stören. Er ist Teil einer Überlebensstrategie.

Charles Baudelaire, Berauscht euch!, in: Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa, in: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe isn acht Bänden, hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, Bd.8, S.251; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985.

Wenige Jahre vor seinem Tod arbeitete Baudelaire an einem Vorwort für die dritte Auflage der Fleurs du mal – "in dem ich meine Tricks und meine Methode erklären und jeden die Kunst lehren werde, ein Gleiches zustande zu bringen" (Brief an Michel Lévy, 1862). Der "Sänger der wilden Lüste des Weines und des Opiums", sehnte sich vor allem nach Ruhe und nach einer Nacht ohne Ende:

C. B., Entwurf zu einem Vorwort für die 'Fleurs du Mal' (1862), in: C. N., Die Blumen des Bösen. Vollständige zweisprachige Ausgabe, hrsg. von Friedhelm Kemp; München-Wien: Carl Hanser Verlag, 1975.

Also lass mich das vorletzte Glas auf dich erheben, Baudelaire, du unendlich Getriebener und unwilliger Lehrmeister, auf dich und deine hundertsiebenundneunzig Jahr! Ach, wenn du heute bei uns wärest! Gendermäßig müssten wir dich freilich noch briefen. Lass mich dir einen Satz von Henri Meschonnic zurufen, den ich ohne dich nie kennengelernt hätte. Er hat übrigens eine merkwürdige Studie zum Rhythmus in deinem Herbstgesang, Chant d'automne, verfasst. Der Satz eröffnet den Essay Wie man lernt, nicht zu wissen, was man tut (2008):

Henri Meschonnic, Pour la poétique III - Une Parole écriture, p. 328; Paris: Gallimard, 1973.

„Es ist das Unbekannte, das uns führt, uns dominiert.
Es macht das Denken leidenschaftlich, denn nur durch unser Unbekanntes machen wir uns auf den Weg nach uns selbst.
Dieses Unbekannte in uns selbst und dieses Denken sind in derselben Suche begründet wie das Unbekannte des Subjekts, das Unbekannte des Gedichts, das Unbekannte der Kunst, das Unbekannte der Sprache, das Unbekannte der Ethik, das Unbekannte der Politik.
Das Unbekannte der Gesellschaft…“

TEE- UND LIKÖRSTUBEN

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Ehemalige Tee- und Likörstube am Urban-Loritz-Platz (2016)

Montag, 26. März 2018

WORTLISTEN

ALPHABET DES ALTERNDEN LESERS

Am Anfang war die Asthma-Attacke

Das Seiende verursacht mir Asthma.

(Cioran, Syllogismen der Bitterkeit, 1952)

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Atemnot Angstzustand Asphyxie

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Atemübung – der angenehme Apotheker beim Westbahnhof hatte ihm dazu geraten. Dieser Mann war eine Ausnahmeerscheinung. Wenn es seiner Kundschaft half, handelte er gegen sein Geschäftsinteresse.

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es ged scho es gedscho wieda es ged scho
(Attwenger, Sun, 2002)

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amertume – was für ein Wort, eine klangliche Achterbahnfahrt. Es beginnt im tiefen Schwarz des A – "schwarzbehaarte Mieder glanzvoll prächtiger Fliegen, die summend schwärmen…" (Rimbaud) –, holt im schneeweißen E zum Schwung aus und hebt ab zum absinthfarbenen Grün des U/Ü; zuletzt der unbetonte Auslaut – l'amertume de la vie

Die Bitterkeit des Lebens ist das Bedauern, nicht hoffen zu können, die Rhythmen nicht mehr zu hören, die uns dazu anregen, unsere Partie in der Symphonie des Werdens zu spielen.
(Gaston Bachelard, 1932)

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Ausnahmezustand – seit jeher, überall, man gewöhnt sich – nicht gern

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Auflistung – was alles und wer aller sich im Ausnahmezustand befand: der Planet Erde; die Kontinente, ein jeder auf seine Art; die Meere oder maritimen Müllhalden; die verschwindende Vogelwelt; der verbleibende amerikanische Präsident; diese digital getakteten und optimal vernetzten Einzelwesen am Rand des Nervenzusammenbruchs; der Nahe Osten; Europa, die Europäische Union… – nicht zuletzt Österreich mitsamt seinen Geheimdiensten.

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AMS – auch der österreichische Arbeitsmarktservice war in die Schlagzeilen geraten. Es war ja nicht so, dass es sich dabei um eine Lieblingsinstitution des alternden Lesers gehandelt hätte, aber was da augenblicklich im Gange war, verhieß nichts Gutes: das große Sparen an falscher Stelle – Ausgrenzung, Ausschließung, Aussetzung
– im neuen Stil.

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Amor fati – eine Grundbedingung für das Überleben unter 2018er-Bedingungen.

Amor fati: das sei von nun an meine Liebe. Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, will nicht einmal die Ankläger anklagen.
Wegsehen sei meine einzige Verneinung!
Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!
(Friedrich Nietzsche, 1881)

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Arturo Benedetti Michelangeli – ohne ihn ging in diesen Tagen und Wochen gar nichts

Franz Schubert, Klaviersonate in A-Dur, D 959 (1828)

[hier in einer Version Alfred Brendels]

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Ankommen – sich im Sinn einer Als-ob-Konstruktion einen Ankerplatz ausmalen, einen Quasi-Anfang machen, aufbrechen

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Achmatova

Vieles möchte, wenn ich mich nicht täusche,
Noch von meinem Mund besungen sein
(Anna Achmatova, 1942)

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Ausflug – vielleicht nach Annaberg. Doch lieber nach Athen? Ach was

*

An die Arbeit. Für Österreich. – Es gab da neuerdings einen Kanzler, dessen Namen sich der alternde Leser nicht merken konnte oder wollte; nachdem es sich um keinen Namen mit A handelte, war es egal. Aalglatt war der und fallweise außerordentlich arrogant, dabei ein farbloses Bürschchen mit schwach entwickelter Stimme; ein Politik-Avatar, gespenstisch ausdrucks- und eigenschaftslos. (Macht der Leere, hatte Thomas Stangl dieses Phänomen genannt.) Er liebte es Armutsgefährdeten und Alten, Alleinerzieherinnen mit geringem Einkommen, Arbeit- und Asylsuchenden zu sagen, wo es lang ging.

Der Leser war im Ausgangsbereich eines Amtsgebäudes auf sein Antlitz gestoßen. Es prangte auf einem Plakat mit dem banalen Stakkato:
An die Arbeit - Punkt - Für Österreich - Punkt.

An-die-Arbeit

*

Appell – Der Satz auf dem Plakat war zugleich als kanzlerhaftes Bekenntnis und als Aufruf gedacht, er richtete sich an alle. Aber warum speziell für Österreich arbeiten? Warum nicht beispielsweise für Europa – das liefe dann auf keinen Punkt, sondern ein Liniengeflecht hinaus –, oder für die Stadt, in der man sich aufhält, oder für das soziale Gefüge, dem man angehört und das mit autoritären Gesellschaftsentwürfen nichts anfangen kann. Warum nicht für ein Allgemeinwohl arbeiten, das nicht nur gelernten Österreichern oder – unappetitlich ausgedrückt – Autochthonen vorbehalten bleibt?

Der Leser jedenfalls empfand dieses Plakat als symptomatisch für die Epoche und ihre schalen Helden. Es erschien ihm als

Augenauswischerei

anmaßend, anrüchig, aufdringlich

*

Adjektivdiät!

*

Arbeit – konnte vieles sein, das Höchste, Anregendste oder das Niederschmetterndste. André Breton hatte es vor neunzig Jahren so ausgedrückt:

Nach alldem soll mir niemand von Arbeit sprechen, ich meine vom moralischen Wert der Arbeit. Ich bin gezwungen den Gedanken der Arbeit als materielle Notwendigkeit anzuerkennen und in diesem Sinne bin ich entschieden für ihre beste, gerechteste Aufteilung. Genug, dass mich die traurigen Verpflichtungen des Lebens dazu zwingen, aber dass man von mir verlangt, daran zu glauben, die meine oder die der anderen zu verehren, niemals! Ich wiederhole es, lieber gehe ich durch die Nacht und halte mich dabei für den, der im Licht geht.
Es nützt nichts lebendig zu sein, wenn man arbeiten muss.
(André Breton, Nadja, 1928)

*

autoritäre Driften… – in Europa…

*

Anders denken, leben, es zumindest versuchen

Philosophie wäre demnach die kritische Arbeit des Denkens an sich selber, die auch als Askese bezeichnet wird. Denken und Wahrnehmen ist nicht An-Eignung, sondern ein Denken, das sich in einem permanenten Prozess des Sich-von sich-Lösens vom Fremden und Anderen in Frage stellen lässt. Eine Ethik als Ästhetik der Existenz versteht sich als Analyse und Ausarbeitung neuer Formen des Selbstverhältnisses, als Suche nach Möglichkeiten des Anders-lebens, die einen Ort des Widerstands gegen die individualisierenden und totalisierenden Mechanismen moderner Macht darstellen.
(Lexikoneintrag, 2004)

*

An-Denken – Wir wissen, dass diese Gedanken, die uns miteinander verbinden nicht einfach Gedanken wie alle anderen sind; wenn ich beispielsweise nicht aufhören kann, an deine Ankunft oder deine Abfahrt – oder dein Verschwinden – zu denken, oder wenn mir unser Streit wieder in den Sinn kommt oder ich dir einen Liebesantrag mache. Solche Gedanken unterscheiden sich von 'gewöhnlichen' Gedanken, sie haben eine einzigartige Intensität und Vitaltät…

Frédéric Worms hat ein schönes Buch zum adressierten Denken geschrieben: "Das Ziel dieses Buches ist einfach: Es besteht darin zu enftalten, warum 'an jemanden denken' nicht dasselbe ist wie 'etwas' denken, dass es aber zugleich auch keine Ausnahme für das Denken oder das Leben darstellt. Vielmehr ist es ein Modell des Denkens und eine Orientierung im Leben."

*

Gennadi Ajgi – dieser liebenswerte, in russischer Sprache schreibende tschuwaschische Dichter. Vor einigen Jahren, knapp vor seinem Tod, war er in Wien und erzählte von seiner unbehausten Zeit in Moskauer Bahnhöfen…

"In keiner sprache / bin ich vonnutzen."

Ajgis kürzestes Gedicht Genügsamkeit des Selbstlauts! besteht nur aus einem einzigen lang gezogenen A und entfaltet seine Wirkung zwischen den Schulterblättern

"FELD FRÜHLINGS

den verstand deckt dort das wunder zu"

(1986)

Ajgi_Poesie

*

der A-Plan sah noch vor, von affirmativer Ästhetik, Henri Pichettes Apoèmes – "logique syncopée, mot-à-motrice, belle et rebelle…" – und nicht zuletzt von (Jean-Paul) Auxeméry zu erzählen.

Andermal ist auch ein Tag.

RANDERSCHEINUNGEN (1)

Wien, Westend: Der letzte Branntweiner vom Urban-Loritz-Platz (2015) ©2015 B.K.

Der letzte Branntweiner vom Urban-Loritz-Platz (2015)

Mittwoch, 31. Januar 2018

MONTAGETECHNIKEN

MURIEL PICS DOKUMENTARISCHE ELEGIEN

"Es gibt keine dokumentarische Kunst ohne Trauergesang."

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Aus einem unendlichen Ozean schriller oder nichtssagender Youtube-Bilderfolgen waren unvermittelt Muriel Pics Rügen-Elegien aufgetaucht – drei Minuten und sechsundvierzig Sekunden von unvergleichlicher Intensität.

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Rügen ist die erste von drei dokumentarischen Elegien um das thematische Spannungsfeld der Utopie. Sie befasst sich mit dem gigantischen Projekt, das die Nationalsozialisten auf der Ostsee-Insel Rügen in Angriff genommen, aber nie fertiggestellt haben: ein für 20.000 Menschen ausgerichtetes Kraft-durch-Freude-Ferienlager als fordistische Regenerations-Maschine. Wozu das daraus gewonnene logistische Wissen in der Folge gedient hat, ist bekannt. Die zweite Elegie Miel handelt vom Traum einer Honigbienen-Zivilisation im umkämpften Palästina, die dritte, Orientation, von einer den Planetenkonstellationen abgeschauten Raumordnung, die einen narrativen Bogen von indianischer Weisheit bis zur Erfindung der Atombombe im Zweiten Weltkrieg spannt.

Die Elegien von Rügen (2016) schaffen mit wenigen Bild-, Text-, Ton-Elementen einen Zustand höchster dokumentarischer Verdichtung: vergilbte Fotos, Landkarten, Grundrisspläne aus dem Archiv – die sprechende und die flüsternde Frauenstimme – monotone Klaviermusik von einer Schallplatte, die immer wieder gewaltsam abgebremst, zum Stillstand gebracht und wieder losgelassen wird.

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Die Dokumente aus dem Archiv stellen mit der forschenden Betrachterin etwas an. Sie beschränken sich nicht darauf, historische Belege zu liefern, sondern übertragen Emotionen. Die dokumentarische Arbeitsweise verlangt nüchterne Distanz, aber es gibt darin auch etwas, das der wissenschaftlichen Herangehensweise zuwiderläuft. Es ist, als ob der Staub, der sich auf den Bildern und Karten angelegt hat, zum eigensinnigen und unberechenbaren Akteur würde.
Zwischen Dokument und Betrachterin setzt ein verstörender Austausch ein. Ein düsterer Gesang, der weder auf das Dokument noch auf die Dokumentaristin zurückzuführen wäre, er setzt irgendwo dazwischen an und breitet sich entlang verborgener Kanalsysteme aus.
Muriel Pics Filme dringen in diesen Kernbereich dokumentarischer Erfahrung vor. In die Momente, wenn etwas wie reine Intuition spürbar wird: Erfahrung im Werden, die sich aus dem Zustand der Formlosigkeit löst und erst allmählich Gestalt annimmt, bis sie zuletzt in Sagen, Sprechen, Reflektieren übergeht.

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Für Muriel Pic ist die Elegie das adäquate Medium, um diese der bewussten Erfahrung vorausgehende Konfrontation mit dem Quellenmaterial zugänglich zu machen. Im antiken Griechenland bezeichnete die Elegie ein in Pentameter, später in Distichen gefasstes Gedicht mit einem vergleichsweise breiten thematischen Spektrum. Sie konnte Lob- oder Kriegslied sein, in ihr klangen philosophische, moralische, politische oder auch subjektiv-erotische Themen an. Die Einengung auf die Totenklage vollzog sich erst in späterer Zeit. Neuzeit und Moderne brachten zahllose Neudefinitionen der Elegie hervor, meist deuteten sie auf eine unüberbrückbare Kluft, einen unwiederbringlichen Verlust oder unauflösbaren Widerspruch.
Für R. M. Rilke wird sie schließlich zu einem von metrischen Zwängen befreite Methodik des rhythmisierten Denkens.
In Patti Smith Elegy (1975) geht es – wie in den meisten anglo-amerikanischen Elegien – um einen Zustand des Zurückgelassen-Seins, dem es nicht mehr darauf ankommt, die Ursache des expansiven Klagegesangs zu bezeichnen. Verlust und Trauer haben sich zu einem Lebensgefühl verdichtet.

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Muriel Pic hat sich als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin mit Henri Michaux, Pierre Jean Jouve, Aby Warburg, Edith Boissonnas, Georges Bataille und Walter Benjamin auseinandergesetzt. Und sie ist eine profunde Kennerin W. G. Sebalds (1944-2001), zu dem sie mehrere Bücher und Essays publiziert hat, darunter L‘image papillon (Das Schmetterlingsbild).
Für ihre Filme hat sie Sebalds literarische Montage adaptiert und radikalisiert. Möglicherweise lässt sich ihr Dokumentarismus am besten anhand ihrer Auseinandersetzung mit Sebalds Werk – das seinerseits auf die poetischen und kulturwissenschaftlichen Methoden Baudelaires und Benjamins zurückgreift – erschließen:

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„Die Erzählungen [Sebalds] sind durch heterogene, in Zeit und Raum verstreute, der Geschichte der Menschheit und der Menschen entnommene Materialien verbunden. Zwischen ihnen treten völlig neue Korrespondenzen, Entsprechungen zutage. Sebald schreibt die Arbeit der Imagination ins Herz des Gedächtnisses ein: nicht nur im Sinn einer Fiktion, sondern im Sinn dieser ,quasi-göttlichen‘ Möglichkeit, die bei Baudelaire die Theorie der Korrespondenzen nährt – ,denn sie erhält zuerst und außerhalb der philosophischen Methoden die intimen und heimlichen Beziehungen der Dinge, Entsprechungen und Analogien‘. (…) Die Vergangenheit betrachten heißt, sich der Empathie aussetzen; das alte Gesetz der Hetzjagd, die den Jäger seiner Beute, einem Schmetterling anverwandelt. Die Recherchen des Autors ähneln jenen des Historikers, führen aber nicht zu einer Spurenanalyse im Hinblick auf eine objektive Wahrheit. Der Blick auf die Vergangenheit fixiert nicht, er nimmt Anteil, vermischt sich mit dem, was war, und verhilft ihm so zu neuem Leben.“ (Muriel Pic)

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Als ich die Rügen-Elegien zum ersten Mal sah, war ich elektrisiert. Zumindest ansatzweise dürfte sich die Erfahrung, die Muriel Pic im Berliner Prora-Archiv gemacht hatte, wiederholt haben. Nun wurde ich selber Zeuge eines Austausches, wie er sich zuvor zwischen den Dokumenten aus dem Archiv und dem forschenden Blick der Autorin ergab. Es fällt mir schwer aufzuzählen, was genau sich während dieser drei Minuten und sechsundvierzig Sekunden zugetragen hat. Sicher ist, dass in meinem Fall auch das Unbehagen in Bezug die gegenwärtig amtierende österreichische Regierungskoalition mit im Spiel war.
Dreiundsiebzig Jahre nach dem Ende des Hitler-Regimes wurde in Österreich eine beachtliche Anzahl deutschnational gesinnter schlagender Burschenschafter in hohe Ämter gehievt. Ein beklemmend revisionistisches Spektakel wurde in Gang gesetzt, die Hoffnung auf eine Überwindung völkischer Phantasmen in Europa hatte sich als Utopie entlarvt. Am Vorabend des Internationalen Holocaust-Gedenktages wurde beispielsweise zum ausgelassenen Tanz fragwürdiger Eliten in die Wiener Hofburg geladen… – Die Rügen-Elegien musste mir in diesem Augenblick als das geeignete Gegengift erschienen sein.

Aber es wäre verfehlt, Muriel Pics dokumentarische Gesänge auf eine Funktion zu reduzieren, selbst wenn es die edelste oder notwendigste wäre. Die poetische Kraft ihrer Filme entfaltet sich erst, wenn man alles, was man darüber zu wissen meint, bewusst in den Hintergrund rückt und sich ganz den Bildern, Worten, Klängen überlässt, bis man von ihrem einprägsamen Ostinato erfasst wird… – Was tun mit den Vermächtnissen? Sie neu erfinden ist das einzige, was bleibt.

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Literatur


Muriel Pic, Élégies documentaires, Collection 'Opus incertum', dirigée pat Jean Christophe Bailly, Paris: Éditions Macula, 2016.

En regardant le sang des bêtes, Lyon: Éditions Trente-trois morceaux, 2017. [Das gleichnamige Video ist ebenfalls auf Youtube abrufbar.]

W. G. Sebald. L’Image papillon (suivi de W.G. Sebald L’Art de voler, trad. en coll. avec Patrick Charbonneau), Dijon: Les Presses du Réel, collection « L’Espace littéraire », 2009.

Le Désir monstre. Poétique de Pierre Jean Jouve, Paris: Éditions du Félin, collection « Les Marches du temps », 2006.

Françoise Clédat, Muriel Pic, 'Élégies documentaires', Note de lecture, Poezibao, 2017.

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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