Mittwoch, 31. Januar 2018

MONTAGETECHNIKEN

MURIEL PICS DOKUMENTARISCHE ELEGIEN

"Es gibt keine dokumentarische Kunst ohne Trauergesang."

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Aus einem unendlichen Ozean schriller oder nichtssagender Youtube-Bilderfolgen waren unvermittelt Muriel Pics Rügen-Elegien aufgetaucht – drei Minuten und sechsundvierzig Sekunden von unvergleichlicher Intensität.

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Rügen ist die erste von drei dokumentarischen Elegien um das thematische Spannungsfeld der Utopie. Sie befasst sich mit dem gigantischen Projekt, das die Nationalsozialisten auf der Ostsee-Insel Rügen in Angriff genommen, aber nie fertiggestellt haben: ein für 20.000 Menschen ausgerichtetes Kraft-durch-Freude-Ferienlager als fordistische Regenerations-Maschine. Wozu das daraus gewonnene logistische Wissen in der Folge gedient hat, ist bekannt. Die zweite Elegie Miel handelt vom Traum einer Honigbienen-Zivilisation im umkämpften Palästina, die dritte, Orientation, von einer den Planetenkonstellationen abgeschauten Raumordnung, die einen narrativen Bogen von indianischer Weisheit bis zur Erfindung der Atombombe im Zweiten Weltkrieg spannt.

Die Elegien von Rügen (2016) schaffen mit wenigen Bild-, Text-, Ton-Elementen einen Zustand höchster dokumentarischer Verdichtung: vergilbte Fotos, Landkarten, Grundrisspläne aus dem Archiv – die sprechende und die flüsternde Frauenstimme – monotone Klaviermusik von einer Schallplatte, die immer wieder gewaltsam abgebremst, zum Stillstand gebracht und wieder losgelassen wird.

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Die Dokumente aus dem Archiv stellen mit der forschenden Betrachterin etwas an. Sie beschränken sich nicht darauf, historische Belege zu liefern, sondern übertragen Emotionen. Die dokumentarische Arbeitsweise verlangt nüchterne Distanz, aber es gibt darin auch etwas, das der wissenschaftlichen Herangehensweise zuwiderläuft. Es ist, als ob der Staub, der sich auf den Bildern und Karten angelegt hat, zum eigensinnigen und unberechenbaren Akteur würde.
Zwischen Dokument und Betrachterin setzt ein verstörender Austausch ein. Ein düsterer Gesang, der weder auf das Dokument noch auf die Dokumentaristin zurückzuführen wäre, er setzt irgendwo dazwischen an und breitet sich entlang verborgener Kanalsysteme aus.
Muriel Pics Filme dringen in diesen Kernbereich dokumentarischer Erfahrung vor. In die Momente, wenn etwas wie reine Intuition spürbar wird: Erfahrung im Werden, die sich aus dem Zustand der Formlosigkeit löst und erst allmählich Gestalt annimmt, bis sie zuletzt in Sagen, Sprechen, Reflektieren übergeht.

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Für Muriel Pic ist die Elegie das adäquate Medium, um diese der bewussten Erfahrung vorausgehende Konfrontation mit dem Quellenmaterial zugänglich zu machen. Im antiken Griechenland bezeichnete die Elegie ein in Pentameter, später in Distichen gefasstes Gedicht mit einem vergleichsweise breiten thematischen Spektrum. Sie konnte Lob- oder Kriegslied sein, in ihr klangen philosophische, moralische, politische oder auch subjektiv-erotische Themen an. Die Einengung auf die Totenklage vollzog sich erst in späterer Zeit. Neuzeit und Moderne brachten zahllose Neudefinitionen der Elegie hervor, meist deuteten sie auf eine unüberbrückbare Kluft, einen unwiederbringlichen Verlust oder unauflösbaren Widerspruch.
Für R. M. Rilke wird sie schließlich zu einem von metrischen Zwängen befreite Methodik des rhythmisierten Denkens.
In Patti Smith Elegy (1975) geht es – wie in den meisten anglo-amerikanischen Elegien – um einen Zustand des Zurückgelassen-Seins, dem es nicht mehr darauf ankommt, die Ursache des expansiven Klagegesangs zu bezeichnen. Verlust und Trauer haben sich zu einem Lebensgefühl verdichtet.

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Muriel Pic hat sich als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin mit Henri Michaux, Pierre Jean Jouve, Aby Warburg, Edith Boissonnas, Georges Bataille und Walter Benjamin auseinandergesetzt. Und sie ist eine profunde Kennerin W. G. Sebalds (1944-2001), zu dem sie mehrere Bücher und Essays publiziert hat, darunter L‘image papillon (Das Schmetterlingsbild).
Für ihre Filme hat sie Sebalds literarische Montage adaptiert und radikalisiert. Möglicherweise lässt sich ihr Dokumentarismus am besten anhand ihrer Auseinandersetzung mit Sebalds Werk – das seinerseits auf die poetischen und kulturwissenschaftlichen Methoden Baudelaires und Benjamins zurückgreift – erschließen:

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„Die Erzählungen [Sebalds] sind durch heterogene, in Zeit und Raum verstreute, der Geschichte der Menschheit und der Menschen entnommene Materialien verbunden. Zwischen ihnen treten völlig neue Korrespondenzen, Entsprechungen zutage. Sebald schreibt die Arbeit der Imagination ins Herz des Gedächtnisses ein: nicht nur im Sinn einer Fiktion, sondern im Sinn dieser ,quasi-göttlichen‘ Möglichkeit, die bei Baudelaire die Theorie der Korrespondenzen nährt – ,denn sie erhält zuerst und außerhalb der philosophischen Methoden die intimen und heimlichen Beziehungen der Dinge, Entsprechungen und Analogien‘. (…) Die Vergangenheit betrachten heißt, sich der Empathie aussetzen; das alte Gesetz der Hetzjagd, die den Jäger seiner Beute, einem Schmetterling anverwandelt. Die Recherchen des Autors ähneln jenen des Historikers, führen aber nicht zu einer Spurenanalyse im Hinblick auf eine objektive Wahrheit. Der Blick auf die Vergangenheit fixiert nicht, er nimmt Anteil, vermischt sich mit dem, was war, und verhilft ihm so zu neuem Leben.“ (Muriel Pic)

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Als ich die Rügen-Elegien zum ersten Mal sah, war ich elektrisiert. Zumindest ansatzweise dürfte sich die Erfahrung, die Muriel Pic im Berliner Prora-Archiv gemacht hatte, wiederholt haben. Nun wurde ich selber Zeuge eines Austausches, wie er sich zuvor zwischen den Dokumenten aus dem Archiv und dem forschenden Blick der Autorin ergab. Es fällt mir schwer aufzuzählen, was genau sich während dieser drei Minuten und sechsundvierzig Sekunden zugetragen hat. Sicher ist, dass in meinem Fall auch das Unbehagen in Bezug die gegenwärtig amtierende österreichische Regierungskoalition mit im Spiel war.
Dreiundsiebzig Jahre nach dem Ende des Hitler-Regimes wurde in Österreich eine beachtliche Anzahl deutschnational gesinnter schlagender Burschenschafter in hohe Ämter gehievt. Ein beklemmend revisionistisches Spektakel wurde in Gang gesetzt, die Hoffnung auf eine Überwindung völkischer Phantasmen in Europa hatte sich als Utopie entlarvt. Am Vorabend des Internationalen Holocaust-Gedenktages wurde beispielsweise zum ausgelassenen Tanz fragwürdiger Eliten in die Wiener Hofburg geladen… – Die Rügen-Elegien musste mir in diesem Augenblick als das geeignete Gegengift erschienen sein.

Aber es wäre verfehlt, Muriel Pics dokumentarische Gesänge auf eine Funktion zu reduzieren, selbst wenn es die edelste oder notwendigste wäre. Die poetische Kraft ihrer Filme entfaltet sich erst, wenn man alles, was man darüber zu wissen meint, bewusst in den Hintergrund rückt und sich ganz den Bildern, Worten, Klängen überlässt, bis man von ihrem einprägsamen Ostinato erfasst wird… – Was tun mit den Vermächtnissen? Sie neu erfinden ist das einzige, was bleibt.

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Literatur


Muriel Pic, Élégies documentaires, Collection 'Opus incertum', dirigée pat Jean Christophe Bailly, Paris: Éditions Macula, 2016.

En regardant le sang des bêtes, Lyon: Éditions Trente-trois morceaux, 2017. [Das gleichnamige Video ist ebenfalls auf Youtube abrufbar.]

W. G. Sebald. L’Image papillon (suivi de W.G. Sebald L’Art de voler, trad. en coll. avec Patrick Charbonneau), Dijon: Les Presses du Réel, collection « L’Espace littéraire », 2009.

Le Désir monstre. Poétique de Pierre Jean Jouve, Paris: Éditions du Félin, collection « Les Marches du temps », 2006.

Françoise Clédat, Muriel Pic, 'Élégies documentaires', Note de lecture, Poezibao, 2017.

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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