Dienstag, 22. Februar 2011

BALLUNGSRÄUME

Zuversichtsgeneratoren #1: urbaner Raum

Wien, Urban Loritz-Platz. – Man könnte ihn für vier Plätze halten. Er setzt sich aus zwei quadratischen Grün- und zwei langgestreckten Grauflächen zusammen. Kreuzweise wird er von stark frequentierten Verkehrsadern durchschnitten. In Süd-Nord-Richtung verläuft die vierspurige Fahrbahn des Neubaugürtels – die vier Spuren in Gegenrichtung gehören streng genommen nicht mehr zum Platz –, in Ost-West-Richtung verlaufen die Westbahn- und die Hütteldorfer Straße. Der Urban Loritz-Platz bildet das Scharnier, in dem die eine in die andere übergeht.

Die beiden langgestreckten, kaum begrünten Flächen sind überdacht; die Zeltdachkonstruktion aus weißem Kunststoff wirkt über dem Asphaltsee wie ein Segel und verleiht der Verkehrsinsel die formale Geschlossenheit.

Nach Norden hin ist der Platz durch die – nicht ganz unspanische – Treppe zur Hauptbücherei begrenzt. In den Sommermonaten wird sie als Treffpunkt und für spontan eingeschobene Sonnenbäder genutzt; die Menschen sitzen dann lesend oder plaudernd auf den Stufen, aufgereiht wie die Tauben. Die Tauben bilden übrigens die zweitstärkste hier vertretene Spezies, den dritten Rang nehmen, noch vor den unvermeidlichen Hunden, die Rabenvögel ein; allerdings halten die sich lieber abseits der Geschäftigkeit, in den angrenzenden Grünflächen auf.

Aus der am Fuß der Treppe herrschenden Dynamik kann man sich kaum vorstellen, dass sich in unmittelbarer Nähe ein Ort der Kontemplation und Konzentration befindet. Hier unten vollzieht sich unentwegtes Einsteigen, Aussteigen, Umsteigen. Vier Straßenbahnlinien (6, 9, 18, 49) und eine U-Bahnlinie (U6) treffen aufeinander, von der U-Bahn ist allerdings nur ein cirka sieben Meter breites Portal zu bemerken, das bis in die späten Nachtstunden Passagiere ansaugt oder ausstößt.

Die Stege zwischen den Straßenbahngeleisen sind schmal. Wer mit Kind unterwegs ist, zieht es automatisch näher an sich heran. Aber es geschieht vergleichsweise wenig. Wahrscheinlich ist das auf die zentrale Wiener Setzung zurückzuführen: Es wird sich schon ausgehen.

Es geht sich tatsächlich – meistens – irgendwie oder gerade noch – aus. Der durchdringende Gesang der Sirenen und Martinshörner hat selten mit Vorkommnissen auf dem Platz zu tun, sondern ist auf die räumliche Nähe zum Allgemeinen Krankenhaus zurückzuführen.

Sieben Imbissbuden bilden ein Spalier für die von den U-Bahn-Schächten ausgeworfenen Fußgänger. Tagsüber fallen sie kaum auf, in der Nacht ziehen sie als weithin sichtbare Laternen Schwärme von Unerlösten an. Den Imbissständen gegenüber hat man sieben Parkbänke aufgestellt. Darauf kann man sich nur schreiend unterhalten, keine zwei Meter entfernt dreht die 18er Straßenbahn lautstark ihre Endstations-Schleife, trotzdem sind die Bänke im Allgemeinen gut ausgelastet; die Tauben freuen sich über zu Boden gefallene Brotreste.

Wo die Idee allfälliger Erlösung nicht greift, muss improvisiert werden. In der glückenden Improvisation liegt das besondere Können, die eigenwillige Schönheit* dieses urbanen Nervenzentrums.

*) Schönheit, die sich aus Zwangsläufigkeit ergibt…

Sonntag, 6. Februar 2011

ZUVERSICHTEN

Anmerkungen zu Lourdes von Jessica Hausner

Eingangssequenz. – Der leere Speisesaal eines Hotels oder einer religiösen Einrichtung. Die Ausstattung ist sehr nüchtern, die einzelnen Tischparzellen sind durch Pflanzengestecke voneinander abgetrennt. Mit dem Einsatz von Schuberts Ave Maria beginnt sich der Raum allmählich zu füllen. Erste Gäste betreten das Bildfeld, einige kommen ohne Hilfe voran, andere sind auf Begleitpersonen angewiesen. Einer der Gäste verfügt über einen motorisierten Rollstuhl; er liebt es, die Kurven scharf anzufahren und kontrapunktiert damit die sonst eher bedächtigen Bewegungsabläufe. Die Betreuerinnen tragen weiße Schleier und leuchtend rote Wolljacken. Sie zeichnen bewegte Muster, moving patterns, ins Gewusel des inzwischen stark frequentierten Speisesaals…

Das Lächeln.– Die Kamera hat ihre leicht erhöhte Position verlassen und sich unter die Gäste gemischt. Sie bewahrt in jedem Moment respektvolle Distanz zu Körpern und Gesichtern. Erstmals nähert sie sich der jungen Heldin, der an multipler Sklerose erkrankten Christine (Sylvie Testud). Die blickt, bevor sie sich weiter füttern lässt, über ihre linke Schulter und lächelt frontal in die Kamera. Es ist ein rätselhaftes Lächeln, bitter, freundlich, ironisch… – es wirkt wie ein Verfremdungs-Effekt im epischen Theater. Dieses Lächeln könnte pars pro toto für die Gemütslage des gesamten Films stehen…

Handlungskreise. – Das filmische Geschehen vollzieht sich innerhalb von drei ineinander greifenden (Inter-)Aktionskreisen. Der erste Kreis zeigt die Gesamtheit aller an einer funktionierenden Hoffnungsindustrie beteiligten Personen. Das sind nur zu einem geringeren Teil Wallfahrer, vor allem sind es Dienstleister: Mitarbeiter der Gastronomie, des Devotionalienhandels, der Personentransportation etc. Die gesamte Logistik, die das florierende Wallfahrtsunternehmen Lourdes in Gang hält, wird im Bildhintergrund sichtbar. Der zweite Aktionskreis setzt sich aus einer kleinen Gruppe von Wallfahrern und ihren Begleitern zusammen. Hier finden sich alle denkbaren Motivlagen, verschiedenste Graduationen von Gläubigkeit oder angewandtem Zweifel. (In diesem Kreis entfaltet der Film eine besondere Kräftigkeit: Jede Nebenfigur prägt sich dem Betrachter auf ganz eigentümliche Weise ein.) Der innerste Aktionskreis betrifft Christine und ihr unmittelbares räumliches und gegenständliches Umfeld…

Seh- und Sprechakte. – Meist erleben wir Christine schweigend. Sie praktiziert ein sehr beredtes Schweigen. Der Blick des Betrachters bleibt eng an ihrer Blick- und Gedankenführung haften. Wenn sie zum Sprechen ansetzt, kommen vor allem zwei Formen des Sprechaktes zum Einsatz: die halb-monologische des Gebets oder der Beichte und die dialogische, alltägliche Kommunikation. Die zweite, an sich gängigere Kommunikationsform blitzt für Christine meist nur momenthaft auf, wenn sie sich beispielsweise mit einem altgedienten Betreuer (Bruno Todeschini) über frühere Reisen unterhält…

Dramatische Zuspitzung. – Das Unwahrscheinliche geschieht. Während Christine programmgemäß durch den Schacht geschoben wird, in dem einst die Heilige Jungrau erschienen sein soll, gelingt es ihr, den Arm ohne fremde Hilfe zu heben. Etwas später kann sie sich aus eigener Kraft aus dem Rollstuhl erheben. Das Wunder zeitigt sowohl gruppendynamische als auch bürokratische Wirkungen. Sowohl streng Gläubige als auch notorische Zweifler erhalten frische Nahrung für ihre jeweilige Überzeugung, wobei es zu merkwürdigen Verschiebungen und Vermischungen der Positionen kommt; der Neid-Affekt erweist sich als unauslöschlich. Nun muss sich Christine den Instanzen der Wunder-Verifikation stellen. Sofern die erste schulmedizinische Untersuchung vor Ort die plötzliche Heilung als wundersam durchgehen lässt, wird eine Kommission einberufen, die den Fall letztgültig bewerten wird…

Schwebezustände. – So unsicher und unentschieden wie Christines erste Schritte bleibt – auch für sie selbst – die Kraftquelle, die sie aus ihrem Handicap befreit hat. Whodunit? War es tatsächlich die Unbeirrbarkeit des Glaubens, gar die Heilige Jungfrau? Oder waren es profanere Dinge wie z.B. der Groll, den sie gegen ihre unverlässliche und provokant lebenslustige Helferin hegte, oder die Sympathie, die sie für den altgedienten Betreuer empfand? Darin liegt eine spezielle Weisheit dieses Films: Er versetzt alles in Schwingung, belässt alles im Schwebezustand…

Räume, Gegenräume. – Welche Räume öffnet der Film, die man so noch nie gesehen, geschweige denn durchmessen hat? Es ist, als ob sich die Denkblase, die über Irene schwebt, während sie mit weit geöffneten Augen an die Zimmerdecke starrt, zu einem konkreten, begehbaren Ort verdichtet und verallgemeinert hätte. Der Film spielt an einem Ort, den jeder kennt und der überall zur Sprache kommt, wo Menschen miteinander in Kontakt treten: Es ist der Ort, an dem Zuversicht verhandelt und die verbleibende Möglichkeit berechnet wird…

Montag, 24. Januar 2011

EINSCHNITTE

vertikal / horizontalNotiz zur Mystischen Fabel

„Die ganze Dante‘sche Welt erstreckt sich entlang der Vertikalen, vom Untersten, dem Teufelsschlund, bis zu den Höhen des Aufenthaltes Gottes und der Seligen. Die einzig wesentliche Bewegung, die die Lage und das Schicksal der Seligen ändert, ist die nach oben oder nach unten entlang der Vertikalen. Nur auf dieser Vertikale gibt es für Dante wirkliche Vielfalt; Unterschiede zwischen Dingen, die sich auf einer Ebene befinden, sind nicht wesentlich. Dies ist der charakteristische Zug mittelalterlicher Weltanschauung.“ (Michail Bachtin)

„Es ist diese Vertikalität, die Dantes Commedia mit dem Geist der gotischen Kathedralen korrespondieren lässt. Aber es ist unübersehbar, dass diese auf scholastischen Voraussetzungen beruhende, vom Kleinsten bis zum Umfassendsten geordnete, vom göttlichen Geist durchwaltete Welt bei Dante in eine Krise tritt, die ihren spezifischen Ort an der Schwelle zum 14. Jahrhundert, dem ersten Jahrhundert der sich ahnenden Neuzeit hat.“ (Karlheinz Stierle)

Das alte Weltbild zerfällt, leuchtendere und einleuchtendere Weltbilder drängen an die Oberfläche. Ein „neues Lebendiges“ tritt in die Geschichte: „der Staat als berechnete, bewusste Schöpfung, als Kunstwerk“ (Jacob Burckhardt). Von da an drängt alles in horizontale Ausbreitung. Die statische, überirdisch-paradiesische Voraussetzung wird von dynamischen, neugierigen, ganz und gar irdischen Voraussetzungen abgelöst.

Der Dante‘sche Dichtertypus wird durch Dichter-Persönlichkeiten wie Francesco Petrarca verdrängt. Für den Bau gigantischer, kathedralenhafter Werke wie der Commedia fehlte ihm bereits die Zeit: „In Petrarcas gewaltigem Œuvre gibt es kein einziges, das ein abgeschlossenes und vollendetes Ganzes geworden wäre. Seine Werke sind Summen, Konfigurationen aus dem Augenblick entsprungener, aber immer wieder überarbeiteter Einzeltexte.“ (Karlheinz Stierle)

Damit schlug zugleich die Stunde für die mystische Intervention. Die frühneuzeitlichen Mystiker und Mystikerinnen waren Fleisch gewordene Seismographen dieser krisenhaften Wandlungsprozesse. Angesichts der universellen Relativierung des Göttlichen insistierten sie auf das Absolute (Nicht-Lösbare), Ganzheitliche, Nicht-Fragmentierte. Sie machten den eigenen Körper zum Instrument, aus dem die Stimme Gottes (oder was sie dafür hielten) hörbar und spürbar werden sollte. Ihr Ziel war die ekstatische Vereinigung mit dem Einen-Einzigen. Die unio mystica verlangte das Unmittelbare, Ereignishafte, Augenblickliche, in dem Vergangenheit und Zukunft sich in „reine“ Gegenwart auflösten und etwas wie Wahrheit sich blitzartig zu erkennen gab.

Die Dichter, die nicht ihre Körper, sondern die Sprache zum Instrument allfälliger Wahrheit machen, begegneten der Mystik selten als einer Fremden. Unmittelbarkeit, Ereignis, Augenblick oder vertikale Einschnitte, in welchen sich „reine“ Präsenz zu erkennen gibt, sind ihnen seit jeher gut bekannt. Es gibt einen Ort – womöglich ist es ein Nicht-Ort – an dem das mystische und das poetische Interesse einander berühren: im „poetischen Augenblick“, dem Schauplatz des innersprachlichen Ereignisses, das den Leser wie ein Meteoriteneinschlag trifft und aus dem linearen Lesefluss kippen lässt:

„In jedem wahren Gedicht kann man also die Elemente einer angehaltenen Zeit finden, einer Zeit, die nicht dem Regelmaß folgt, einer Zeit, die uns vertikal anruft, um sich von der allgemeinen Zeit zu unterscheiden, die mit dem strömenden Wasser des Flusses und dem vorbeistreifenden Wind horizontal verläuft (…) Während die Zeit der Prosodie eine horizontale ist, ist jene der Poesie eine vertikale. (…) Das Ziel ist die Vertikalität, die Tiefe oder die Höhe; der stabilisierte Augenblick, in dem die Simultaneitäten, indem sie sich ordnen, die metaphysische Perspektive des poetischen Augenblicks unter Beweis stellen. (…) Im poetischen Augenblick steigt das Sein auf oder es fällt, ohne die Zeit der Welt anzunehmen, die Ambivalenz auf die Antithese und Simultaneität auf Sukzession reduziert hat.“ (Gaston Bachelard)

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Abb.: Deszö Tandori, Stafette. Prosa und Dichtungen, hrsg. von Julianne Deréky, aus dem Ungarischen übersetzt von Christine Rácz, Klagenfurt-Salzburg 1994, Wieser Verlag (S.56)

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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Zuletzt aktualisiert: 22. Jun, 00:49

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