Montag, 3. Oktober 2011

AUSTRITTE

Klee_Striding-out

Donnerstag, 3. März 2011

VERMISCHUNGEN

Wie jagende Katzen, unmittelbar bevor sie zum Sprung ansetzen: voll durchgespannte Autos drängen zur Weiterfahrt. Beim Betreten der Fahrbahn stellt die Fußgängerampel auf rot um, ich muss mich sputen. Hinter meinem Rücken höre ich die Motoren hochdrehen. Es ist sich gerade noch ausgegangen.

Mokador, Coffee Shop. Coffee to go, small, large, x-large… – als bestünde die gesamte Fassade des Cafés nur aus leuchtenden Aufschriften. Beim Betreten das Lokal bin ich irritiert: Etwas hat sich verändert.

Der Raucherbereich wurde ins Untergeschoß verlegt. Hier oben, entlang der Bar, herrschen jetzt ungetrübte Sichtverhältnisse und markante Leere. Zwei Gäste sitzen weit voneinander entfernt, der eine ist mit einem Laptop beschäftigt, der andere liest Zeitung. Die gute Aussicht, die man von hier aus auf den Urban Loritz-Platz hat, scheint die beiden nicht zu interessieren.

Zwei riesige Flachbildschirme flankieren die Theke. Sofern kein bedeutendes Sportereignis stattfindet, läuft tonlos n-tv. Die Newsticker vermitteln das Gefühl, auch in Entspannungsphasen informiert zu sein. Den Aufstand in Tunesien, die Jasmin-Revolution, habe ich noch von hier oben verfolgt.

Eine Glastür führt zur Treppe ins Souterrain. Hinter dem Handlauf sind terrassenartig abfallende Bücherregale angebracht. Auf die Schnelle erkenne ich ein Lexikon früher Kulturen. Im Untergeschoss sind fast alle Tische besetzt. Nur das schmale Purgatorium neben der Toilettentür ist noch frei. Die 1970er-Schalensitze sind gewöhnungsbedürftig. Ein erstaunlich angenehmer Musikmix unterlegt das Sprachen- und Stimmengewirr.

Am Nebentisch diskutieren eine junge Wienerin und ein älterer Mann arabischer Herkunft ein Sprachkursprojekt; sie kämpfen mit Finanzierungsproblemen. Ganz hinten, unter dem dritten Flachbildschirm im Lokal, unterhält sich ein Paar in Taubstummensprache. Vor ihnen sitzen zwei Frauen, die sich durch dicke Packen kopierter Skripten arbeiten. Ein älterer Mann im Staubmantel erinnert an den Schweizer Schriftsteller Paul Nizon; anhand eines Telefongesprächs wird er sich als begnadeter Wiener Schmähführer zu erkennen geben. Der lebhafteste Tisch befindet sich schräg hinter mir. Zuerst sind es drei, später fünf junge Männer, die ebenfalls Arabisch sprechen und eine Meinungsverschiedenheit auszutragen haben. Die Sprachkursleute vom Nebentisch brechen auf und erlösen mich aus der Warteposition.

Von der cremefarbenen Kunstlederbank aus, die sich über die gesamte Länge der Raucherlounge (sic) zieht, erschließen sich sonderbare Bild- und Schriftwelten: Film- Kunst- und Werbeplakate, aber auch aktuelle Zeitungscovers wurden hier flächendeckend an die Wand tapeziert; eine wilde Mischung, die in der Zusammenschau eine kleine Ausstellung zum Thema ,Typographie und Werbegrafik des 20. und 21. Jahrhunderts‘ ergibt.

Der Schriftzug „Chaos groß, Stimmung gut“, sticht heraus, und auch das Bekenntnis "We are Ravens". Der anonyme Ausstellungskurator lässt neben seinem offensichtlichen Hang zu stilisierten Frauenköpfen einen eher trockenen Humor und ausgeprägte Tierliebe durchblicken.

Das Mokador* – eine von dreizehn Wiener Filialen des Castellari-Imperiums mit Sitz in Faenza bei Ravenna – ist ein rechtmäßiger Nachfahre des Wiener Kaffeehauses. Diese traditionsreiche Einrichtung gibt es zwar noch, drei davon, Westend, Weidinger und Weingartner, befinden sich in unmittelbarer Nähe, aber es hat offenbar auch dieses dynamischere Gegenstück gebraucht.

Diese im positiven Sinne befremdliche Verbindung aus italienischem Café und American Bar mit leisen stilistischen Anklängen an die Wiener Tradition wird an diesem späten Nachmittag vor allem von deutsch-, slawisch-, albanisch und arababischsprachigen Gästen bevölkert. Auch wenn der türkische Bevölkerungsanteil im Moment fehlt und der afrikanische noch unterrepräsentiert ist, versammelt das Café viele Tugenden des Urban Loritz-Platzes. Es ist gewissermaßen seine Innenseite.

*) Fundstelle: Mokador espresso italiano, Neubaugürtel 27, 1150 Wien; täglich geöffnet von 6.00 bis 2.00 Uhr.

Sonntag, 27. Februar 2011

AUFSCHRIFTEN

Aussetzung der Zuversicht: "Fremdenpaket"

Vom Urban Loritz-Platz aus nicht sichtbar, aber nur ein Steinwurf von hier entfernt: die verwirrende symmetrische Aufschrift an der östlichen Seitenflanke der Hauptbücherei – ein Wortkunstwerk Heinz Gappmayrs, visuelle Poesie:

In großen Lettern ist dort das Wort ECHO zu lesen. Nach dem zentralen O wiederholt sich – in Spiegelschrift – der Wortteil ECH. Das Kunst-Wort entwickelt nicht nur ,optischen Hall‘, es bringt einem unwillkürlich den Gehörsinn zu Bewusstsein: was spricht, singt, lärmt oder hallt hier? Zugleich baut es eine Brücke zur antiken griechischen Mythologie, zur Nymphe Echo, die im Zuge einer göttlichen Intrige zum Schweigen gebracht wurde: Danach konnte sie keinen eigenen Satz mehr formulieren, sondern nur noch die letzten Silben des gerade Gehörten wiederholen.

Es heißt, Gappmayrs minimalistisches Kunstwerk sei auch als kritischer Kommentar zur aktuellen Verfassstheit der österreichischen Sozialdemokratie zu lesen. Auch sie scheint nicht mehr in der Lage, eigene Setzungen zu äußern, sondern muss sich darauf beschränken, silbenweise nachzusingen, was sie via Yellow Press, die hierzulande sehr mächtig ist, oder beim politischen Gegner zufällig aufschnappt.

(Das konservative Lager wird im sarkastischen Gassengespräch erst gar nicht mehr erwähnt. Von ihm weiß man, dass es seit jeher doppelzüngig und zynisch agiert. Sowohl das christliche als auch das soziale Motiv dienen ihm ausschließlich zu taktischen Zwecken. Wenn man ihm eine Wiener Aufschrift zuordnen wollte, müsste es wohl Lawrence Weiners Schriftzug am Flakturm im nahe gelegenen Esterhazypark sein:
„Zertrümmert in Stücke / In der Stille der Nacht.“
Das fehlende Subjekt des Satzes wäre dann: die politische Kultur.

Nachdem die umstrittene schwarz-blaue Regierung im Februar 2000 auf unterirdischem Weg zur Angelobung in die Präsidentschaftskanzlei geschritten, geseppelt oder gelurcht war – Hallen der Schritte im Kellergewölbe, Knarren selten benutzter Türen… –, gab es von Kanzler Schüssel gebetsmühlenartig diesen einen Satz zu hören:
„Messt uns an unseren Taten“.
Erst aus dem Abstand der Geschichte lassen sich die Chuzpe und bestechende Offenheit seiner Worte ermessen. Kein Mensch hätte damals daran gedacht, dass Schüssel tatsächlich den strafrechtlichen Terminus von ,Tat‘ im Sinn gehabt hat.)

Über der nüchternen, bewegten, vielsprachigen Schönheit des Urban Loritz-Platzes hängt – bedrohlich tief in diesen Tagen – das Damoklesschwert einer geschlossenen und korrupten Gesellschaft.

Wo der hässliche Österreicher die Bühne betritt, kommt Zuversicht rasch an ihr Ende. Am Dienstag hat er sich ein Denkmal gesetzt: Das so genannte Fremdenpaket hat – nach halbherziger kosmetischer Behandlung (Euphemisierung) und mit sozialdemokratischer Unterstützung – den Ministerrat passiert…

Wenn es nicht so grausam und menschenverachtend wäre: Der gesamte Platz müsste in lautes Gelächter ausbrechen.

WASCHZETTEL

Das Getümmel an den Rändern des Wahrnehmungsfeldes:
von den Bildern, Büchern, Gesprächen, Ereignissen, die trotz allem Aufmerksamkeit erregen

HINWEIS

BILDFELD

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DAUMENORAKEL

In der Poesie ist immer Krieg. Nur in Epochen gesellschatlichen Idiotismus tritt Friede oder Waffenruhe ein. Wortstammführer rüsten wie Heerführer zum wechselseitigen Kampf. Wortwurzeln bekriegen sich in der Dunkelheit, jagen sich gegenseitig die Nahrung ab und die Säfte der Erde. (…)

Ossip Mandelstam, Notizen über Poesie (1923)

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Zuletzt aktualisiert: 22. Jun, 00:49

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